Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Verlaufen
WIE
„Verlaufen?“ erklärt mir ein Kollege, „passiert mir so gut wie gar nicht, vor allem nicht mehr, seit es Handys gibt, und ich immer das Navi dabei habe.“
„Na prima“, sage ich, „da hältst du alle Probleme für gelöst, nur weil du für jeden Notfall eine App in der Tasche hast.“
„Ja, wer sich heute noch verläuft, ist doch selber schuld.
„Ich verlaufe mich täglich“, antworte ich im nüchternen Ton.
„Was, wie schaffst du das denn, wie bist du denn unterwegs?“
„Nein, ich rede von meinen Träumen, die handeln oft vom Verlaufen.“
„Hast du im Traum kein Smartphone bei dir?“
„Nicht dass ich wüsste, ich benutze zwar täglich ein Smartphone, aber was zählen diese Jahre gegenüber den vielen Jahrzehnten, in denen ich ohne Handy unterwegs war und mich verlaufen habe. Ich war schon als Vierjähriger viel alleine unterwegs, damals in unserm Viertel in Düsseldorf, und habe mich verlaufen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich es gewisser weise auch provoziert habe, mich vorsichtig bis an den Rand des Vertrauten zu bewegen und darüber hinaus, also in Straßen einzubiegen, die ich nicht kannte, wo ich mir den Rückweg genau merken musste, ohne zu wissen, ob mir das wirklich gelingt. Verlaufen gehört irgendwie dazu, vor allem auch zu lernen, wie und was man tun kann, um es zu verhindern.“
Mein Kollege, übrigens deutlich jünger als ich, will nicht ganz einsehen, wofür man etwas lernen soll, wenn es eine App dafür gibt. Aber er scheint auch sonst einige Erfahrungen nicht zu teilen. Wahrscheinlich ist er auf der Rückbank eines Mama-Taxi groß geworden. Oder warum bin ich im Traum so oft alleine unterwegs? Um mich herum ist es voller Menschen, es wird gefeiert, großer Trubel, ein Schützen- oder Karnevalszug oder so etwas. Und ich habe die anderen im Getümmel verloren.
„Das alles ist gar nicht so abwegig“, will ich mich meinem jungen Kollegen gegenüber rechtfertigen, „wenn man im Rheinland aufgewachsen ist. Da wird viel gefeiert, Karneval, Sankt Martin, Schützenfeste und Kirmes. Wo wir mit den Eltern, deren Freunden und deren Kindern früher viel unterwegs waren. Aber die Erwachsenen feierten eben auch, waren mit sich selber beschäftigt. Kurzes oder längerfristiges Verlieren war da keine Ausnahme. Nicht viel anders bei den Martinszügen abends in der dunklen Stadt. Auch hier war das Verlieren vorprogrammiert, ich stand plötzlich alleine zwischen fremden Personen, die Aufpasser am Rande des Zuges mit großen Pechfackeln schürten auch eher Angst als Vertrauen. Soll man einfach stehen bleiben und warten oder doch besser im Laufschritt außen am Zug vorbei laufen?“
„Das ist ja gruselig, wie in einem Horrorfilm.“ Bei meinem Kollegen scheint langsam Verständnis aufzukommen.„Jedenfalls hat mein Handy nicht alle Tiefen der kindlichen Erfahrungen überschreiben können", sage ich, "mir würden neue Apps erst dann helfen, wenn ich mit ihnen die Inhalte meiner Träume genau bestimmen könnte.“
„Vielleicht kann man irgendwann in Zukunft die Motive und Themen seiner Träume auswählen und für die nächste Nacht buchen, eine Mediathek für Träume sozusagen.“ Der Gedanke an einen neuen Anwendungsbereich für Apps scheint meinem Kollegen zu gefallen.
„Aber dann habe ich auch die Qual der Wahl und aus psychologischer Sicht stellt sich die Frage, ob es gut wäre, wenn ich nur harmlose Themen aus dem Bereich Herz und-Schmerz-Filme wähle. Vielleicht fehlt mir dann etwas?“
„Das macht in der Mediathek doch auch keiner. Natürlich werden auch Krimis und Psychothriller gewählt.“
„Das mache ich doch in meinen Träumen jetzt schon, wozu brauche ich da dann eine App?“
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Verlaufen
WIE
„Verlaufen?“ erklärt mir ein Kollege, „passiert mir so gut wie gar nicht, vor allem nicht mehr, seit es Handys gibt, und ich immer das Navi dabei habe.“
„Na prima“, sage ich, „da hältst du alle Probleme für gelöst, nur weil du für jeden Notfall eine App in der Tasche hast.“
„Ja, wer sich heute noch verläuft, ist doch selber schuld.
„Ich verlaufe mich täglich“, antworte ich im nüchternen Ton.
„Was, wie schaffst du das denn, wie bist du denn unterwegs?“
„Nein, ich rede von meinen Träumen, die handeln oft vom Verlaufen.“
„Hast du im Traum kein Smartphone bei dir?“
„Nicht dass ich wüsste, ich benutze zwar täglich ein Smartphone, aber was zählen diese Jahre gegenüber den vielen Jahrzehnten, in denen ich ohne Handy unterwegs war und mich verlaufen habe. Ich war schon als Vierjähriger viel alleine unterwegs, damals in unserm Viertel in Düsseldorf, und habe mich verlaufen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich es gewisser weise auch provoziert habe, mich vorsichtig bis an den Rand des Vertrauten zu bewegen und darüber hinaus, also in Straßen einzubiegen, die ich nicht kannte, wo ich mir den Rückweg genau merken musste, ohne zu wissen, ob mir das wirklich gelingt. Verlaufen gehört irgendwie dazu, vor allem auch zu lernen, wie und was man tun kann, um es zu verhindern.“
Mein Kollege, übrigens deutlich jünger als ich, will nicht ganz einsehen, wofür man etwas lernen soll, wenn es eine App dafür gibt. Aber er scheint auch sonst einige Erfahrungen nicht zu teilen. Wahrscheinlich ist er auf der Rückbank eines Mama-Taxi groß geworden. Oder warum bin ich im Traum so oft alleine unterwegs? Um mich herum ist es voller Menschen, es wird gefeiert, großer Trubel, ein Schützen- oder Karnevalszug oder so etwas. Und ich habe die anderen im Getümmel verloren.
„Das alles ist gar nicht so abwegig“, will ich mich meinem jungen Kollegen gegenüber rechtfertigen, „wenn man im Rheinland aufgewachsen ist. Da wird viel gefeiert, Karneval, Sankt Martin, Schützenfeste und Kirmes. Wo wir mit den Eltern, deren Freunden und deren Kindern früher viel unterwegs waren. Aber die Erwachsenen feierten eben auch, waren mit sich selber beschäftigt. Kurzes oder längerfristiges Verlieren war da keine Ausnahme. Nicht viel anders bei den Martinszügen abends in der dunklen Stadt. Auch hier war das Verlieren vorprogrammiert, ich stand plötzlich alleine zwischen fremden Personen, die Aufpasser am Rande des Zuges mit großen Pechfackeln schürten auch eher Angst als Vertrauen. Soll man einfach stehen bleiben und warten oder doch besser im Laufschritt außen am Zug vorbei laufen?“
„Das ist ja gruselig, wie in einem Horrorfilm.“ Bei meinem Kollegen scheint langsam Verständnis aufzukommen.„Jedenfalls hat mein Handy nicht alle Tiefen der kindlichen Erfahrungen überschreiben können", sage ich, "mir würden neue Apps erst dann helfen, wenn ich mit ihnen die Inhalte meiner Träume genau bestimmen könnte.“
„Vielleicht kann man irgendwann in Zukunft die Motive und Themen seiner Träume auswählen und für die nächste Nacht buchen, eine Mediathek für Träume sozusagen.“ Der Gedanke an einen neuen Anwendungsbereich für Apps scheint meinem Kollegen zu gefallen.
„Aber dann habe ich auch die Qual der Wahl und aus psychologischer Sicht stellt sich die Frage, ob es gut wäre, wenn ich nur harmlose Themen aus dem Bereich Herz und-Schmerz-Filme wähle. Vielleicht fehlt mir dann etwas?“
„Das macht in der Mediathek doch auch keiner. Natürlich werden auch Krimis und Psychothriller gewählt.“
„Das mache ich doch in meinen Träumen jetzt schon, wozu brauche ich da dann eine App?“