Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Zukunft
WIE
1
"Na gut, dann will ich mal sehen, was die Zukunft bringt.“ Sie ließ das geschmolzene Blei ins Wasser fallen.
„Du musst viel schneller schütten“, meinte ihr älterer Bruder.
„Du musst die Augen schließen“, riet ihre Schwester.
„Stell dir genau vor, was du gießen willst, dann geht es auch Erfüllung“, erklärte ihre Mutter.
„Ist das meine oder eure Zukunft?“, sagte sie verärgert und stand auf, bevor sie das Ergebnis ihres Bleigusses überhaupt kannte, hörte sie schon die Interpretationen ihrer Familie.
„Eine Giraffe.“
„Nein, die Insel Kreta."
„Quatsch, ein Gewehr.“
2
„Wie stellst du dir denn deine Zukunft vor?“, hatte ihn sein Vater Silvester gefragt. Er war gerade elf und hielt zum ersten Mal ein volles Glas Sekt in der Hand. Dann übernahm der Vater die Beantwortung seiner Frage gleich selbst und hielt einen Vortrag über die Unberechenbarkeit des Friseurgewerbes. Wenn junge Männer nur noch lange Haare tragen, über die Unvorhersehbarkeit des Bekleidungsgeschäfts, wenn Frauen mittlerweile bunte Overalls tragen, genauso wie über die Unbeständigkeit von Einrichtungshäusern, wenn alle Korbmöbel besser als Eiche finden. Einzig der Lebensmitteleinzelhandel, also konkret ein Laden wie ihrer hier im Dorf, sei allen Unwegsamkeiten gewachsen.
„Was zu Essen brauchen die Menschen immer!“ Er goss seinem Sohn noch einmal Sekt nach, um ihm dann zu sagen: „Du wirst eines Tages mal das Geschäft übernehmen.“
3
In seinen Sturm- und Drangzeiten, oder besser in der WG-Zeit, die mit einigen Drogenexzessen verbunden war, hatte er eine Aktionsgruppe gegründet und das Manifest zum WILD BRAIN verfasst: 'Zukunft ist einzig und allein eine Frage ungezügelter Kreativität.' Er konnte sich noch genau an die Silvesternacht erinnern, in der sie ihre Zukunftsziele mit roter Farbe auf die Außenfassade der alten, leerstehenden Kaserne gepinselt hatten. Über dreißig Jahre waren diese übermütig dahin gepinselten Schlagworte stehengeblieben. Es war ihm später immer peinlicher geworden, wenn sie daran vorbei gehen mussten.
4
„Wo siehst du dich in Zukunft, zum Beispiel in zehn Jahren?“, wurde er von einer sehr hübschen Dunkelhaarigen zu Silvester in dem Jahr gefragt, in dem er dann doch noch sein Examen mit Ach und Krach geschafft hatte.
„Ich habe doch nicht sechzehn Semester Philosophie und Linguistik studiert, um dann genau sagen zu können, wo ich in zehn Jahren stehen werde.“
Sie hatte seine Antwort mit einem langen Zungenkuss bekräftigt, wie er fand. Einige Zeit später war er mit ihr zusammen als Coach und Ratgeber unterwegs und sie wurden sehr erfolgreich. Ihr gemeinsames Debüt-Buch landete schon nach wenigen Wochen auf der Bestsellerliste: ‚Du kannst Deine Zukunft sehen‘.
5
„Lassen sie uns auf das Jahr 2023 anstoßen“, rief der der Gastgeber zu Silvester auf der frisch renovierten Terrasse am Ufer der Ahr, „möge für jeden das in Erfüllung gehen, was er, sie sich als Ziel gesetzt hat.“
Was soll der Quatsch, hatte sie gedacht, Long Covid machte ihr immer noch zu schaffen, das neue Seminarzentrum in Altenahr war nicht mehr da, wo es stehen sollte, übehaupt blieb alles unvorhersehbar. Denn spätestens nach dem 24. Februar hatte es geheißen, überall muss gespart werden, Geld fließt nur noch für Coachings der Bundeswehr.
„Und was haben Sie sich für das Jahr 2023 als Ziel gesetzt?“, wurde sie von einer älteren Dame gefragt.
„Das werde ich endgültig erst nächstes Silvester wissen.“
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Zukunft
WIE
1
"Na gut, dann will ich mal sehen, was die Zukunft bringt.“ Sie ließ das geschmolzene Blei ins Wasser fallen.
„Du musst viel schneller schütten“, meinte ihr älterer Bruder.
„Du musst die Augen schließen“, riet ihre Schwester.
„Stell dir genau vor, was du gießen willst, dann geht es auch Erfüllung“, erklärte ihre Mutter.
„Ist das meine oder eure Zukunft?“, sagte sie verärgert und stand auf, bevor sie das Ergebnis ihres Bleigusses überhaupt kannte, hörte sie schon die Interpretationen ihrer Familie.
„Eine Giraffe.“
„Nein, die Insel Kreta."
„Quatsch, ein Gewehr.“
2
„Wie stellst du dir denn deine Zukunft vor?“, hatte ihn sein Vater Silvester gefragt. Er war gerade elf und hielt zum ersten Mal ein volles Glas Sekt in der Hand. Dann übernahm der Vater die Beantwortung seiner Frage gleich selbst und hielt einen Vortrag über die Unberechenbarkeit des Friseurgewerbes. Wenn junge Männer nur noch lange Haare tragen, über die Unvorhersehbarkeit des Bekleidungsgeschäfts, wenn Frauen mittlerweile bunte Overalls tragen, genauso wie über die Unbeständigkeit von Einrichtungshäusern, wenn alle Korbmöbel besser als Eiche finden. Einzig der Lebensmitteleinzelhandel, also konkret ein Laden wie ihrer hier im Dorf, sei allen Unwegsamkeiten gewachsen.
„Was zu Essen brauchen die Menschen immer!“ Er goss seinem Sohn noch einmal Sekt nach, um ihm dann zu sagen: „Du wirst eines Tages mal das Geschäft übernehmen.“
3
In seinen Sturm- und Drangzeiten, oder besser in der WG-Zeit, die mit einigen Drogenexzessen verbunden war, hatte er eine Aktionsgruppe gegründet und das Manifest zum WILD BRAIN verfasst: 'Zukunft ist einzig und allein eine Frage ungezügelter Kreativität.' Er konnte sich noch genau an die Silvesternacht erinnern, in der sie ihre Zukunftsziele mit roter Farbe auf die Außenfassade der alten, leerstehenden Kaserne gepinselt hatten. Über dreißig Jahre waren diese übermütig dahin gepinselten Schlagworte stehengeblieben. Es war ihm später immer peinlicher geworden, wenn sie daran vorbei gehen mussten.
4
„Wo siehst du dich in Zukunft, zum Beispiel in zehn Jahren?“, wurde er von einer sehr hübschen Dunkelhaarigen zu Silvester in dem Jahr gefragt, in dem er dann doch noch sein Examen mit Ach und Krach geschafft hatte.
„Ich habe doch nicht sechzehn Semester Philosophie und Linguistik studiert, um dann genau sagen zu können, wo ich in zehn Jahren stehen werde.“
Sie hatte seine Antwort mit einem langen Zungenkuss bekräftigt, wie er fand. Einige Zeit später war er mit ihr zusammen als Coach und Ratgeber unterwegs und sie wurden sehr erfolgreich. Ihr gemeinsames Debüt-Buch landete schon nach wenigen Wochen auf der Bestsellerliste: ‚Du kannst Deine Zukunft sehen‘.
5
„Lassen sie uns auf das Jahr 2023 anstoßen“, rief der der Gastgeber zu Silvester auf der frisch renovierten Terrasse am Ufer der Ahr, „möge für jeden das in Erfüllung gehen, was er, sie sich als Ziel gesetzt hat.“
Was soll der Quatsch, hatte sie gedacht, Long Covid machte ihr immer noch zu schaffen, das neue Seminarzentrum in Altenahr war nicht mehr da, wo es stehen sollte, übehaupt blieb alles unvorhersehbar. Denn spätestens nach dem 24. Februar hatte es geheißen, überall muss gespart werden, Geld fließt nur noch für Coachings der Bundeswehr.
„Und was haben Sie sich für das Jahr 2023 als Ziel gesetzt?“, wurde sie von einer älteren Dame gefragt.
„Das werde ich endgültig erst nächstes Silvester wissen.“