Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Worauf es ankommt
RAU
Habe zwölf Kilometer hinter mich gebracht und schon das Gefühl, nicht mehr zu können. Das kann doch nicht sein. Vielleicht bin ich unterzuckert?
Habe gestern um sechs die letzte Mahlzeit gehabt, obwohl Konrad wieder vor sich hin gebrummt und gemeint hat, wir könnten dann ja gleich das Abendessen, übrigens seine liebste Mahlzeit, ausfallen lassen. Ich hätte nichts dagegen, habe dann aber doch geschwiegen. Zweimal essen am Tag reicht mir vollkommen, vor allem seit ich mir angewöhnt habe, auf diesem unbequemen Rad zu sitzen. Spinning Bike heißt es neudeutsch, alle Welt spricht davon und gerät in kollektives Verzücken. Frauen meiner Altersklasse lassen sich gerne in Gymnastikbuden, sorry, sie heißen ja Fitnessstudios, von einem knackigen, unter Dreißigjährigen zu virtuellen Berg- und Talfahrten antreiben.
„Jetzt aus dem Sattel und hoch in den Dritten, Mädels, auf geht‘s.“
Mädels kommt immer gut, vor allem wenn die Fünfzig überschritten sind.
Meine Oma trug stolz ihre breiten Hüften, und Opa klopfte stets wohlwollend drauf. Meine Lotte, pflegte er dabei zu sagen, was kann ich mich glücklich schätzen, dich zu haben. Und lächelte sie an wie ein Charmeur der alten Schule, der er ja auch war, und meine Oma lächelte glücklich zurück wie ein junges Mädchen. Diese Ehe hielt vierundfünfzig Jahre bis zum Tod meines Opas. Konrad und ich haben erst die Hälfte davon geschafft. Vierundfünfzig Jahre Ehe! Genauso viele Jahre wie ich jetzt lebe.
Dreiundzwanzig Kilometer, der Radweg verlässt den See und beginnt sich die Bergstraße hinauf zu schlängeln. Schon schreit die Stimme des Trainers über Kopfhörer „Hinaufschalten“, und ich denke mir, du kann mich mal. Vielleicht sollte ich das Display ausschalten und am besten auch seine Stimme? Mir nur den Timer auf sechzig Minuten einstellen und einfach losstrampeln, an Dies und Das oder, noch besser, an gar nichts denken?
Ich sitze in meiner Großstadtwohnung auf meinem Spinning Bike, der teuersten Anschaffung der letzten Jahre, und soll jetzt den Genfer See verlassen und hoch auf den Berg strampeln. Vorgestern habe ich die Route in Manhattan entlang des Hudsons gewählt, ich war aber auch schon in Toronto, Mexiko und irgendwo in Afrika unterwegs.
Die Argumente auf Wikipedia über den neuen Trendsport des Indoorcycling kenne ich im Schlaf: es trainiert das Herzkreislaufsystem und die Kraftausdauer, schont die Gelenke, ist ein Kalorienkiller, formt Beine, Po und auch die Rumpfmuskulatur, macht Spaß und hilft Stress abzubauen. Dass ich nicht lache, seitdem das Ungetüm in meinem Arbeitszimmer mit Blick in den Innenhof steht, habe ich noch mehr Stress. Wann baue ich die drei wöchentlichen Übungssequenzen ein? Reichen auch zweimal? Immerhin sind es pro Sitzung sechzig Minuten, also drei Stunden zusätzlich zu meiner täglichen Yogapraxis, so sagt man ja jetzt als Insider, nach dem Aufstehen. An der frischen Luft soll ich mich auch so oft wie möglich bewegen, dabei habe ich noch meinen Job mit dreißig Stunden, der mir leider nur noch so einigermassen Freude macht. Die halbe Stunde Radweg hin und zurück werden als sportliche Betätigung nicht viel zählen, da ich an mindestens sechs Ampeln oft bei Rot halten muss. Einen Ehemann habe ich auch noch, einen Haushalt, drei fast erwachsene Kinder, viele Freunde und sonstige Interessen.
Neunundzwanzig Kilometer und jetzt eine Schussfahrt. Kurzes Verschnaufen, bevor die nächste Steigung kommt. Ich beginne meine Freundin Kerstin zu verfluchen, die mir dieses Ungetüm dringend nahegelegt hat, immerhin ist sie Physiotherapeutin, nie mehr wieder werde ich mich mit jemandem aus dieser Berufsgruppe befreunden, Ehrenwort.
Kilometer Zweiunddreißig. Ich hebe meine Füße von den Pedalen und weiß, worauf es ankommt. Ich will meine Ruhe haben, mich auf mein Sofa legen und lesen oder dösen oder einfach nichts tun. Nur lesen und dösen, nichts tun, sonst nichts. Ohne Zeit- und Kalorienmessung und Anfeuerungen eines jugendlichen Trainers aus dem Off.
Texte zum Alltäglichen -
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Worauf es ankommt
RAU
Habe zwölf Kilometer hinter mich gebracht und schon das Gefühl, nicht mehr zu können. Das kann doch nicht sein. Vielleicht bin ich unterzuckert?
Habe gestern um sechs die letzte Mahlzeit gehabt, obwohl Konrad wieder vor sich hin gebrummt und gemeint hat, wir könnten dann ja gleich das Abendessen, übrigens seine liebste Mahlzeit, ausfallen lassen. Ich hätte nichts dagegen, habe dann aber doch geschwiegen. Zweimal essen am Tag reicht mir vollkommen, vor allem seit ich mir angewöhnt habe, auf diesem unbequemen Rad zu sitzen. Spinning Bike heißt es neudeutsch, alle Welt spricht davon und gerät in kollektives Verzücken. Frauen meiner Altersklasse lassen sich gerne in Gymnastikbuden, sorry, sie heißen ja Fitnessstudios, von einem knackigen, unter Dreißigjährigen zu virtuellen Berg- und Talfahrten antreiben.
„Jetzt aus dem Sattel und hoch in den Dritten, Mädels, auf geht‘s.“
Mädels kommt immer gut, vor allem wenn die Fünfzig überschritten sind.
Meine Oma trug stolz ihre breiten Hüften, und Opa klopfte stets wohlwollend drauf. Meine Lotte, pflegte er dabei zu sagen, was kann ich mich glücklich schätzen, dich zu haben. Und lächelte sie an wie ein Charmeur der alten Schule, der er ja auch war, und meine Oma lächelte glücklich zurück wie ein junges Mädchen. Diese Ehe hielt vierundfünfzig Jahre bis zum Tod meines Opas. Konrad und ich haben erst die Hälfte davon geschafft. Vierundfünfzig Jahre Ehe! Genauso viele Jahre wie ich jetzt lebe.
Dreiundzwanzig Kilometer, der Radweg verlässt den See und beginnt sich die Bergstraße hinauf zu schlängeln. Schon schreit die Stimme des Trainers über Kopfhörer „Hinaufschalten“, und ich denke mir, du kann mich mal. Vielleicht sollte ich das Display ausschalten und am besten auch seine Stimme? Mir nur den Timer auf sechzig Minuten einstellen und einfach losstrampeln, an Dies und Das oder, noch besser, an gar nichts denken?
Ich sitze in meiner Großstadtwohnung auf meinem Spinning Bike, der teuersten Anschaffung der letzten Jahre, und soll jetzt den Genfer See verlassen und hoch auf den Berg strampeln. Vorgestern habe ich die Route in Manhattan entlang des Hudsons gewählt, ich war aber auch schon in Toronto, Mexiko und irgendwo in Afrika unterwegs.
Die Argumente auf Wikipedia über den neuen Trendsport des Indoorcycling kenne ich im Schlaf: es trainiert das Herzkreislaufsystem und die Kraftausdauer, schont die Gelenke, ist ein Kalorienkiller, formt Beine, Po und auch die Rumpfmuskulatur, macht Spaß und hilft Stress abzubauen. Dass ich nicht lache, seitdem das Ungetüm in meinem Arbeitszimmer mit Blick in den Innenhof steht, habe ich noch mehr Stress. Wann baue ich die drei wöchentlichen Übungssequenzen ein? Reichen auch zweimal? Immerhin sind es pro Sitzung sechzig Minuten, also drei Stunden zusätzlich zu meiner täglichen Yogapraxis, so sagt man ja jetzt als Insider, nach dem Aufstehen. An der frischen Luft soll ich mich auch so oft wie möglich bewegen, dabei habe ich noch meinen Job mit dreißig Stunden, der mir leider nur noch so einigermassen Freude macht. Die halbe Stunde Radweg hin und zurück werden als sportliche Betätigung nicht viel zählen, da ich an mindestens sechs Ampeln oft bei Rot halten muss. Einen Ehemann habe ich auch noch, einen Haushalt, drei fast erwachsene Kinder, viele Freunde und sonstige Interessen.
Neunundzwanzig Kilometer und jetzt eine Schussfahrt. Kurzes Verschnaufen, bevor die nächste Steigung kommt. Ich beginne meine Freundin Kerstin zu verfluchen, die mir dieses Ungetüm dringend nahegelegt hat, immerhin ist sie Physiotherapeutin, nie mehr wieder werde ich mich mit jemandem aus dieser Berufsgruppe befreunden, Ehrenwort.
Kilometer Zweiunddreißig. Ich hebe meine Füße von den Pedalen und weiß, worauf es ankommt. Ich will meine Ruhe haben, mich auf mein Sofa legen und lesen oder dösen oder einfach nichts tun. Nur lesen und dösen, nichts tun, sonst nichts. Ohne Zeit- und Kalorienmessung und Anfeuerungen eines jugendlichen Trainers aus dem Off.