Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Wind
RAU
Fliegende Plastiktüten. Fallende Äste. Wild tanzende Blätter. Reste einer Styroporverpackung liegen auf dem Gehweg. Auf dem Weg zur Arbeit weht es sie fast vom Rad. Von überall gleichzeitig kommt der Wind, von vorn, von der Seite und von hinten, ihre Finger krallen sich um die Lenkergriffe.
Von Ferne hört sie Martinshörner, an der nächsten Ecke ist die Seitenstraße mit rot-weißem Band abgesperrt, dahinter hantieren dick vermummte Feuerwehrmänner mit ihren Geräten. Im selben Moment überholt sie ein Notarztwagen, weiter vorne liegt ein großer Ast auf der Fahrbahn, zwei Männer steigen aus ihren Autos und tragen ihn zur Seite. Klappern von umgeworfenen Mülltonnen, die über den Bürgersteig rollen. Dazu lautes Heulen, oder ist es ein Pfeifen? Ein großes Schauspiel für Augen und Ohren, für ihre Kinderseele, endlich was los, endlich ist es nicht wie immer. Was für ein Spaß.
Am Meer liebt sie den Wind schon immer, sich fast schräg gegen seine Wucht zu stemmen, sich mit Mütze, Stirnband, Schal und Brille zu schützen. Die aufbrausende, hohe Gischt zu bewundern, harte Sandkörner auf dem Gesicht und zwischen den Zähnen zu spüren, Möwengeschrei. Auf dem Rückweg sich dann fast mühelos davon tragen zu lassen.
Tagsüber liebt sie den Wind, als würde er sie leichter machen und alles Schwere, alles Schlechte von ihr fortblasen. Doch abends und in der Nacht ändert er sein Gesicht und wird zur bedrohlichen Gestalt, die ihr Liebgewordenes nehmen kann mit ihrer geballten Kraft. Die Küchentür klappert die ganze Nacht, im Kamin heult es, als säße dort ein böser Kobold. Werden Dach und Mauerwerk halten? Bleiben Auto und Rad heil? Stühle und Gießkanne rollen über die Terrasse, beim letzten Mal lagen am Morgen danach vier Tontöpfe in Scherben und alle Blumenblüten auf dem Boden.
Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. So heißt es bei Hänsel und Gretel, nachdem die beiden vom Lebkuchenhaus genascht haben. Nachts liegt sie wach, wenn er ums Haus heult, und ist die kleine Gretel, die irgendetwas Verbotenes gemacht hat, findet keine Ruhe und erwartet sehnsüchtig den Morgen. Der Wind, der Wind, das himmlische Kind macht was er will mit ihr. Am Tage bringt er die Freude, und die Angst in der Nacht.
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RAU
Fliegende Plastiktüten. Fallende Äste. Wild tanzende Blätter. Reste einer Styroporverpackung liegen auf dem Gehweg. Auf dem Weg zur Arbeit weht es sie fast vom Rad. Von überall gleichzeitig kommt der Wind, von vorn, von der Seite und von hinten, ihre Finger krallen sich um die Lenkergriffe.
Von Ferne hört sie Martinshörner, an der nächsten Ecke ist die Seitenstraße mit rot-weißem Band abgesperrt, dahinter hantieren dick vermummte Feuerwehrmänner mit ihren Geräten. Im selben Moment überholt sie ein Notarztwagen, weiter vorne liegt ein großer Ast auf der Fahrbahn, zwei Männer steigen aus ihren Autos und tragen ihn zur Seite. Klappern von umgeworfenen Mülltonnen, die über den Bürgersteig rollen. Dazu lautes Heulen, oder ist es ein Pfeifen? Ein großes Schauspiel für Augen und Ohren, für ihre Kinderseele, endlich was los, endlich ist es nicht wie immer. Was für ein Spaß.
Am Meer liebt sie den Wind schon immer, sich fast schräg gegen seine Wucht zu stemmen, sich mit Mütze, Stirnband, Schal und Brille zu schützen. Die aufbrausende, hohe Gischt zu bewundern, harte Sandkörner auf dem Gesicht und zwischen den Zähnen zu spüren, Möwengeschrei. Auf dem Rückweg sich dann fast mühelos davon tragen zu lassen.
Tagsüber liebt sie den Wind, als würde er sie leichter machen und alles Schwere, alles Schlechte von ihr fortblasen. Doch abends und in der Nacht ändert er sein Gesicht und wird zur bedrohlichen Gestalt, die ihr Liebgewordenes nehmen kann mit ihrer geballten Kraft. Die Küchentür klappert die ganze Nacht, im Kamin heult es, als säße dort ein böser Kobold. Werden Dach und Mauerwerk halten? Bleiben Auto und Rad heil? Stühle und Gießkanne rollen über die Terrasse, beim letzten Mal lagen am Morgen danach vier Tontöpfe in Scherben und alle Blumenblüten auf dem Boden.
Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. So heißt es bei Hänsel und Gretel, nachdem die beiden vom Lebkuchenhaus genascht haben. Nachts liegt sie wach, wenn er ums Haus heult, und ist die kleine Gretel, die irgendetwas Verbotenes gemacht hat, findet keine Ruhe und erwartet sehnsüchtig den Morgen. Der Wind, der Wind, das himmlische Kind macht was er will mit ihr. Am Tage bringt er die Freude, und die Angst in der Nacht.