Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Wie im Traum
RAU
Eigentlich ist sie viel zu müde. Die Haut klebt, der Mund ist trocken, seit Tagen schon fühlt sich die Hitze wie dreiundvierzig Grad an. Wann hört die Sonne endlich auf zu scheinen, hat sie so etwas überhaupt schon einmal gedacht?
Trotzdem verlässt sie am frühen Abend die Wohnung, schließt das Rad auf und tritt langsam in die Pedale. Doch da ist keine Kraft in den Beinen, nur mühsam gehen die ersten Meter. Auch kein Fahrtwind weht, der sonst schön kühlt. Die Geschäfte haben noch geöffnet, müde Gestalten schleppen sich mit ihren Einkäufen nach Hause oder vor die nächste Kneipe. Ein kühles Getränk bitte, sprechen ihre Mienen. Beim Überqueren der aufgeheizten, sechsspurigen Asphaltstraße wird ihr fast schlecht, auf der anderen Seite angekommen nimmt sie einen Schluck Wasser aus ihrer Trinkflasche. Dann endlich in den großen Park und unter hohen, alten Bäumen fahren, der schwarze Rikschafahrer wischt sich den Schweiß vom Gesicht, als er vier Russen vor dem Brandenburger Tor absetzt. Schön sieht es aus im Abendlicht.
Fußgänger und Radfahrer passieren die rot-weißen Absperrungen am Reichstag, alle zieht es zum Wasser. Auf den Betonstufen hocken aufgedrehte Schülergruppen wie laute Vögel und schießen sich gegenseitig mit ihren Smartphones ab. Seit Wochen hat sie nicht so viele Menschen gesehen, alle Hautfarben, viele Sprachen, verschiedene Alter, wobei die Jungen überwiegen. Die modernen Regierungsgebäude wirken im Abendlicht wie große Raumschiffe, ein Sachse sagt zu seiner Frau: „Dafür gehen sie also hin, unsere Gelder.“
Am Wasser entlang gibt es keine Absperrungen, seltsam für ihr Land der Vorschriften, denkt sie. Vor der Glasfront im Erdgeschoß stehen Leute, kleine technische Geräte werden aufgebaut, schon erklingen die ersten Melodien. Und Paare bewegen sich zur Musik. Tango. Diese immer ein wenig traurige Musik aus Argentinien, die wunderbar zur müden Wärme des Abends passt. Bei zwei Paaren sind die Bewegungen sehr geschmeidig und voller Überraschungen. Eine ältere, schmale Asiatin im eng anliegenden Kleid und hohen Schuhen lässt sich, die Augen geschlossen, von ihrem deutschen Partner führen. Wirkt seltsam entrückt auf dem aufgeheizten Beton. Zwei Ausflugsschiffe mit E-Antrieb schippern lautlos vorbei, auch hier wird auf den Decks gestaunt und zu den Smartphones gegriffen.
Auf einmal hört sie etwas anderes und sie geht flussaufwärts weiter. West Coast Swing, wie eine junge Frau ihr erklärt, die Tanzenden mit fröhlichen Gesichtern und lebhaften, schnellen Bewegungen. Auch sie beginnt langsam Beine und Hüften zu kreisen, da hört sie harte, dunkle Bass-und Schlagzeugtöne von der anderen Seite des Flusses. Vor dem grauen Beton des riesigen Gebäudes zappelnde, hüpfende und zuckende Gestalten in schwarz, ist das noch Tanzen oder schon pures Ausflippen? Nach der nächsten Biegung gibt es Salsa, sie hatte vergessen, wie klein und beweglich die SüdamerikanerInnen sind, ein paar Meter weiter tönt Hip Hop aus den Lautsprechern der Strandbar. Aus dem bunt beleuchteten Biergarten gegenüber schreit es. „Are you ready for the nineties?“
„Yeah“, brüllt das Publikum zurück.
Und schon beginnt der Sänger. „Everybody …“. Den Song kennt sie noch aus ihrer Jugend, es waren nicht ihre besten Jahre.
Soll sie hier bleiben oder wieder zurück zu Tango und Swing? Ist das alles überhaupt noch was für sie? Oder ist das jetzt wie damals vor hundert Jahren der berühmte Tanz auf dem Vulkan? Bevor das ganz große Elend kam und vielleicht wieder kommen wird? Vielleicht ist das alles jetzt aber auch gar nicht wahr? Traum oder Wirklichkeit? Sie nimmt den letzten Schluck aus ihrer Flasche und kann sich nicht entscheiden.
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Wie im Traum
RAU
Eigentlich ist sie viel zu müde. Die Haut klebt, der Mund ist trocken, seit Tagen schon fühlt sich die Hitze wie dreiundvierzig Grad an. Wann hört die Sonne endlich auf zu scheinen, hat sie so etwas überhaupt schon einmal gedacht?
Trotzdem verlässt sie am frühen Abend die Wohnung, schließt das Rad auf und tritt langsam in die Pedale. Doch da ist keine Kraft in den Beinen, nur mühsam gehen die ersten Meter. Auch kein Fahrtwind weht, der sonst schön kühlt. Die Geschäfte haben noch geöffnet, müde Gestalten schleppen sich mit ihren Einkäufen nach Hause oder vor die nächste Kneipe. Ein kühles Getränk bitte, sprechen ihre Mienen. Beim Überqueren der aufgeheizten, sechsspurigen Asphaltstraße wird ihr fast schlecht, auf der anderen Seite angekommen nimmt sie einen Schluck Wasser aus ihrer Trinkflasche. Dann endlich in den großen Park und unter hohen, alten Bäumen fahren, der schwarze Rikschafahrer wischt sich den Schweiß vom Gesicht, als er vier Russen vor dem Brandenburger Tor absetzt. Schön sieht es aus im Abendlicht.
Fußgänger und Radfahrer passieren die rot-weißen Absperrungen am Reichstag, alle zieht es zum Wasser. Auf den Betonstufen hocken aufgedrehte Schülergruppen wie laute Vögel und schießen sich gegenseitig mit ihren Smartphones ab. Seit Wochen hat sie nicht so viele Menschen gesehen, alle Hautfarben, viele Sprachen, verschiedene Alter, wobei die Jungen überwiegen. Die modernen Regierungsgebäude wirken im Abendlicht wie große Raumschiffe, ein Sachse sagt zu seiner Frau: „Dafür gehen sie also hin, unsere Gelder.“
Am Wasser entlang gibt es keine Absperrungen, seltsam für ihr Land der Vorschriften, denkt sie. Vor der Glasfront im Erdgeschoß stehen Leute, kleine technische Geräte werden aufgebaut, schon erklingen die ersten Melodien. Und Paare bewegen sich zur Musik. Tango. Diese immer ein wenig traurige Musik aus Argentinien, die wunderbar zur müden Wärme des Abends passt. Bei zwei Paaren sind die Bewegungen sehr geschmeidig und voller Überraschungen. Eine ältere, schmale Asiatin im eng anliegenden Kleid und hohen Schuhen lässt sich, die Augen geschlossen, von ihrem deutschen Partner führen. Wirkt seltsam entrückt auf dem aufgeheizten Beton. Zwei Ausflugsschiffe mit E-Antrieb schippern lautlos vorbei, auch hier wird auf den Decks gestaunt und zu den Smartphones gegriffen.
Auf einmal hört sie etwas anderes und sie geht flussaufwärts weiter. West Coast Swing, wie eine junge Frau ihr erklärt, die Tanzenden mit fröhlichen Gesichtern und lebhaften, schnellen Bewegungen. Auch sie beginnt langsam Beine und Hüften zu kreisen, da hört sie harte, dunkle Bass-und Schlagzeugtöne von der anderen Seite des Flusses. Vor dem grauen Beton des riesigen Gebäudes zappelnde, hüpfende und zuckende Gestalten in schwarz, ist das noch Tanzen oder schon pures Ausflippen? Nach der nächsten Biegung gibt es Salsa, sie hatte vergessen, wie klein und beweglich die SüdamerikanerInnen sind, ein paar Meter weiter tönt Hip Hop aus den Lautsprechern der Strandbar. Aus dem bunt beleuchteten Biergarten gegenüber schreit es. „Are you ready for the nineties?“
„Yeah“, brüllt das Publikum zurück.
Und schon beginnt der Sänger. „Everybody …“. Den Song kennt sie noch aus ihrer Jugend, es waren nicht ihre besten Jahre.
Soll sie hier bleiben oder wieder zurück zu Tango und Swing? Ist das alles überhaupt noch was für sie? Oder ist das jetzt wie damals vor hundert Jahren der berühmte Tanz auf dem Vulkan? Bevor das ganz große Elend kam und vielleicht wieder kommen wird? Vielleicht ist das alles jetzt aber auch gar nicht wahr? Traum oder Wirklichkeit? Sie nimmt den letzten Schluck aus ihrer Flasche und kann sich nicht entscheiden.