Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Wetter
RAU
Regen ist das Schlimmste, nur übertroffen von Dauerregen. Ich stehe im Wohnzimmer an der Balkontür und weiß, dass ich nicht raus kann. Nicht hinaus darf, weil Mutter es nicht möchte. Sie will nicht, dass ich nass werde, dass meine Haare und meine Kleider nass und dreckig, womöglich schlammig werden.
Ich könnte heulen, könnte vor Wut an die Fensterscheiben hauen, bis sie zerplatzen, so wie ich jeden Moment zerplatzen könnte, die Unruhe rast in meinem Körper, in meinem Hirn rauf und runter, hin und her. Eingesperrt wie ein Tiger fühle ich mich, obwohl nein, dieses Tier kenne ich noch gar nicht. Eingesperrt reicht, das schlimmste aller Gefühle. Ich bin machtlos, ein anderer hat gesagt, was ich zu machen habe und was ich auf keinen Fall darf, ein anderer verbietet mir, was ich am liebsten mache, und nur deshalb, weil er groß ist, und ich klein bin.
Ich darf nicht raus, muss in der Wohnung bleiben, soll am besten im Kinderzimmer sein und irgendetwas Vernünftiges machen. Ein Lieblingsausdruck meiner Mutter, etwas Vernünftiges tun. Ihr Lieblingsausdruck schlechthin. Und ich weiss genau, was sie damit meint, Lesen oder Basteln, denn bei beidem bin ich still und rühre mich nicht. Das mag Mutter, dass ich sie nicht störe.
Doch alles in mir sträubt sich gegen ihre Ansage, denn das bin ich nicht. Ich bin nicht ruhig und still, ich mag nicht lesen oder basteln, ich bin unruhig und neugierig, will mich bewegen, will reden, erzählen, lachen, weinen, zuhören, spielen, rennen, toben, mit anderen Kindern zusammen sein, als Räuber und Gendarm durch unsere Straße fegen, Bällen hinterher jagen, gegenseitig Witze erzählen und Vieles mehr, nur nicht am Tisch sitzen und basteln oder auf dem Bett liegen und lesen, nein, nur das nicht.
Ich habe eine Regenjacke und Gummistiefel, Jahr für Jahr kauft Mutter eine größere Jacke und größere Schuhe für mich, denn ich wachse schnell und soll auf dem langen Schulweg nicht nass werden. Aber wenn es nachmittags und am Wochenende regnet, darf ich sie nicht anziehen, sondern soll im Kinderzimmer bleiben. Das teile ich mir mit meiner Schwester, die ist still, die sitzt an ihrem Schreibtisch und bastelt irgendetwas oder liegt auf dem Bett, dem oberen von unserem Doppelstockbett, und liest. Gibt stundenlang keinen Mucks von sich, sondern bastelt oder liest. Wenn ich wegen des blöden Regens schon zuhause sein muss, dann würde ich gerne Hochzeit spielen, mich als schöne Königin verkleiden und meine lange Schleppe hochraffen, wenn ich in die Hochzeitskutsche steige bzw. die ersten Stufen unser Doppelstockbettleiter betrete. Dabei würde ich auch gerne laut singen, denn zu einer festlichen Hochzeit gehört Musik, aber dann würde ich meine Schwester stören, weil wir uns ja das Kinderzimmer teilen.
Wenn es Samstagnachmittags regnet, ist es nicht ganz so schlimm. Dann sitzt Vater an seinem großen Schreibtisch im Wohnzimmer, schreibt irgendetwas Wichtiges auf und hört die Bundesligakonferenz im Radio. Ich liege auf dem großen, bunten Teppich daneben, fahre mit dem Finger die unterschiedlichen Farben und Muster nach und lausche den Männerstimmen aus dem Radiogerät, sehe die schmalen Füße meines Vaters in den vorne und hinten offenen Lederschlappen, puste die kleinen Staubwölkchen unter dem Schreibtisch weg, höre Vaters dunkle Stimme, wenn er sich über einen Spielzug oder ein Tor freut oder ärgert, und bin glücklich. Die Fußballspieler dürfen bei Wind und Wetter und bei Regen auf dem Rasenplatz sein, und ich kann bei meinem Vater sein, nach den Spielen gibt es Abendbrot und anschließend kommt die Sportschau im Ersten. Dann sehe ich die Spieler im Regen laufen, mit nassen Haaren, Trikots, Hosen, Stutzen und Schuhen, zweiundzwanzig Spieler und drei Schiedsrichter sind nass, verdreckt und angeschmatscht. Sie dürfen so sein, ich nicht.
Ich stehe an der Balkontür in unserem Wohnzimmer und sehe den Tropfen zu, wie sie in die Pfützen auf dem Bürgersteig und auf der Straße spritzen, wie gerne würde ich auch mit meinen Gummistiefeln hinterher springen, und dann in die nächste und in die nächste Pfütze hinein. Wie gerne würde ich jetzt meine Freunde unten auf der Straße treffen, mich mit ihnen unter Vordächern oder hervortretenden Balkonen hocken, Murmeln und Sammelbildchen ansehen und tauschen, Witze erzählen, mich darüber auslassen, wie blöd Frau Schuster, meine Klassenlehrerin doch heute wieder gewesen ist, wie gerne würde ich einfach mit meinen Freunden zusammen sein. Aber ich darf es nicht. Ich darf nicht raus, soll etwas Vernünftiges tun, lesen oder basteln oder am besten noch etwas für die Schule machen, wie meine brave Schwester. Wie ich sie hasse, wie ich Mutter hasse, wie ich den blöden Regen hasse. Wie ungerecht es doch ist, nur weil ich klein bin und meine Mutter groß ist, darf ich nicht machen, was ich will.
Wenn ich eines Tages groß bin, werde ich immerzu und wann immer ich will rausgehen und draußen sein, denn wenn ich erwachsen sein werde, soll mir wirklich niemand mehr sagen, was ich zu machen habe und was nicht.
Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Wetter
RAU
Regen ist das Schlimmste, nur übertroffen von Dauerregen. Ich stehe im Wohnzimmer an der Balkontür und weiß, dass ich nicht raus kann. Nicht hinaus darf, weil Mutter es nicht möchte. Sie will nicht, dass ich nass werde, dass meine Haare und meine Kleider nass und dreckig, womöglich schlammig werden.
Ich könnte heulen, könnte vor Wut an die Fensterscheiben hauen, bis sie zerplatzen, so wie ich jeden Moment zerplatzen könnte, die Unruhe rast in meinem Körper, in meinem Hirn rauf und runter, hin und her. Eingesperrt wie ein Tiger fühle ich mich, obwohl nein, dieses Tier kenne ich noch gar nicht. Eingesperrt reicht, das schlimmste aller Gefühle. Ich bin machtlos, ein anderer hat gesagt, was ich zu machen habe und was ich auf keinen Fall darf, ein anderer verbietet mir, was ich am liebsten mache, und nur deshalb, weil er groß ist, und ich klein bin.
Ich darf nicht raus, muss in der Wohnung bleiben, soll am besten im Kinderzimmer sein und irgendetwas Vernünftiges machen. Ein Lieblingsausdruck meiner Mutter, etwas Vernünftiges tun. Ihr Lieblingsausdruck schlechthin. Und ich weiss genau, was sie damit meint, Lesen oder Basteln, denn bei beidem bin ich still und rühre mich nicht. Das mag Mutter, dass ich sie nicht störe.
Doch alles in mir sträubt sich gegen ihre Ansage, denn das bin ich nicht. Ich bin nicht ruhig und still, ich mag nicht lesen oder basteln, ich bin unruhig und neugierig, will mich bewegen, will reden, erzählen, lachen, weinen, zuhören, spielen, rennen, toben, mit anderen Kindern zusammen sein, als Räuber und Gendarm durch unsere Straße fegen, Bällen hinterher jagen, gegenseitig Witze erzählen und Vieles mehr, nur nicht am Tisch sitzen und basteln oder auf dem Bett liegen und lesen, nein, nur das nicht.
Ich habe eine Regenjacke und Gummistiefel, Jahr für Jahr kauft Mutter eine größere Jacke und größere Schuhe für mich, denn ich wachse schnell und soll auf dem langen Schulweg nicht nass werden. Aber wenn es nachmittags und am Wochenende regnet, darf ich sie nicht anziehen, sondern soll im Kinderzimmer bleiben. Das teile ich mir mit meiner Schwester, die ist still, die sitzt an ihrem Schreibtisch und bastelt irgendetwas oder liegt auf dem Bett, dem oberen von unserem Doppelstockbett, und liest. Gibt stundenlang keinen Mucks von sich, sondern bastelt oder liest. Wenn ich wegen des blöden Regens schon zuhause sein muss, dann würde ich gerne Hochzeit spielen, mich als schöne Königin verkleiden und meine lange Schleppe hochraffen, wenn ich in die Hochzeitskutsche steige bzw. die ersten Stufen unser Doppelstockbettleiter betrete. Dabei würde ich auch gerne laut singen, denn zu einer festlichen Hochzeit gehört Musik, aber dann würde ich meine Schwester stören, weil wir uns ja das Kinderzimmer teilen.
Wenn es Samstagnachmittags regnet, ist es nicht ganz so schlimm. Dann sitzt Vater an seinem großen Schreibtisch im Wohnzimmer, schreibt irgendetwas Wichtiges auf und hört die Bundesligakonferenz im Radio. Ich liege auf dem großen, bunten Teppich daneben, fahre mit dem Finger die unterschiedlichen Farben und Muster nach und lausche den Männerstimmen aus dem Radiogerät, sehe die schmalen Füße meines Vaters in den vorne und hinten offenen Lederschlappen, puste die kleinen Staubwölkchen unter dem Schreibtisch weg, höre Vaters dunkle Stimme, wenn er sich über einen Spielzug oder ein Tor freut oder ärgert, und bin glücklich. Die Fußballspieler dürfen bei Wind und Wetter und bei Regen auf dem Rasenplatz sein, und ich kann bei meinem Vater sein, nach den Spielen gibt es Abendbrot und anschließend kommt die Sportschau im Ersten. Dann sehe ich die Spieler im Regen laufen, mit nassen Haaren, Trikots, Hosen, Stutzen und Schuhen, zweiundzwanzig Spieler und drei Schiedsrichter sind nass, verdreckt und angeschmatscht. Sie dürfen so sein, ich nicht.
Ich stehe an der Balkontür in unserem Wohnzimmer und sehe den Tropfen zu, wie sie in die Pfützen auf dem Bürgersteig und auf der Straße spritzen, wie gerne würde ich auch mit meinen Gummistiefeln hinterher springen, und dann in die nächste und in die nächste Pfütze hinein. Wie gerne würde ich jetzt meine Freunde unten auf der Straße treffen, mich mit ihnen unter Vordächern oder hervortretenden Balkonen hocken, Murmeln und Sammelbildchen ansehen und tauschen, Witze erzählen, mich darüber auslassen, wie blöd Frau Schuster, meine Klassenlehrerin doch heute wieder gewesen ist, wie gerne würde ich einfach mit meinen Freunden zusammen sein. Aber ich darf es nicht. Ich darf nicht raus, soll etwas Vernünftiges tun, lesen oder basteln oder am besten noch etwas für die Schule machen, wie meine brave Schwester. Wie ich sie hasse, wie ich Mutter hasse, wie ich den blöden Regen hasse. Wie ungerecht es doch ist, nur weil ich klein bin und meine Mutter groß ist, darf ich nicht machen, was ich will.
Wenn ich eines Tages groß bin, werde ich immerzu und wann immer ich will rausgehen und draußen sein, denn wenn ich erwachsen sein werde, soll mir wirklich niemand mehr sagen, was ich zu machen habe und was nicht.