Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Warten
RAU
„Information für ICE 508 nach München, heute circa zwanzig Minuten später wegen eines Notarzteinsatzes.“
Da hätte sie sich nicht so beeilen müssen und locker noch zuhause die Haare föhnen können. Jetzt liegen sie feucht und platt am Kopf, dass sie sogar leicht frösteln muss. Bekommt sie jetzt zwanzig Minuten geschenkt, fragt sie sich. Natürlich nicht. Obwohl sie jetzt doch beginnt, genauer zu überlegen, aber so einfach geht das heute morgen noch nicht.
Wie immer vor einer Abfahrt hat sie schlecht geschlafen, was Dreierlei bedeutet. Spät eingeschlafen, öfters aufgewacht und zu früh wach geworden. In Summe hat sie nicht mehr als fünf Stunden geschlafen, was eindeutig zu wenig ist, zumal vor einem wichtigen Meeting. Und heute Abend geht es mit dem Kunden noch ins Restaurant, mittlerweile verflucht sie diese Außentermine. Aber sie ist Alberts bestes Pferd im Stall, wie er sagt, Akquise kann niemand so wie du, sagt er, und sie weiß es selber auch.
Sie greift zum Smartphone und sieht auf der Deutsche Bahn App nach ihren nächsten Anschlussmöglichkeiten in München, denn sie muss noch weiter nach Rosenheim. Beginnt den zweitägigen Termin zu verfluchen. Wie lange macht sie diesen Job schon, und wäre nicht langsam Zeit für etwas Anderes? Bloß nicht jetzt am frühen Morgen und ohne Frühstück diese schwierigen Fragen. Dann steht sie einfach so rum und sieht ins Leere. Was so auch wieder nicht stimmt, denn schon am nächsten Gleis bleiben ihre Augen an einem älteren Mann hängen, oder ist er doch so alt wie sie? In Radsportkleidung sitzt er auf der einzigen Bank, neben sich Rucksack und ein stylisches Klapprad, und tippt auf seinem Laptop. Würde sie ihren Laptop mit auf eine Radtour nehmen? Aber so einfach wie früher lassen sich heute die Anderen eben auch nicht mehr ohne Weiteres einordnen. Vielleicht fährt er auch zu einem Meeting oder ist auf der Rückfahrt und wartet auf seinen Anschluss nach Hause? War nebenher sportlich unterwegs oder wird es sein?
„ICE 508 nach München, heute circa vierzig Minuten Verspätung.“
Der Bahnsteig füllt sich immer mehr, es wird zu Smartphones, Snacks und Getränken gegriffen, die einzigen vier Sitzplätze sind belegt. Wann hat wer eigentlich dafür gesorgt, dass es so gut wie keine Sitzgelegenheiten mehr auf den Bahnsteigen gibt? Hat das mit den Terroranschlägen der letzten Jahre zu tun, die es zum Glück so nicht mehr gibt? Dafür haben wir jetzt andere Probleme. Es wird nicht leichter, nirgends, nur in der Phantasie.
Der Radfahrer tippt unbeirrt auf seinem Laptop als säße er im Büro. Unruhe verbreitet er nicht. So wie sie, mittlerweile ist sie auf dem zugigen Bahnsteig sicherlich schon viermal hin- und hergegangen. Erst zehn Minuten Warterei hat sie geschafft, noch viermal soviel liegt vor ihr. Geschenkte Zeit? Dass sie nicht lacht. Gestohlene Zeit, in der sie wer weiß was hätte machen können. Haare föhnen, in Ruhe frühstücken, mit Konrad noch das Wochenende besprechen. Oder die Papiere fürs Meeting nochmal durchgehen, dann braucht sie es nachher nicht mehr im Zug zu machen? Ihre Nachrichten checken oder sich auf Spiegelonline das Neuste von der Nacht und vom Tage durchlesen und sich die Laune verderben lassen? Oder soll sie jetzt alles hier sofort auf dem zugigen Bahnsteig erledigen, damit sie nachher auf ihrem weichen Sitz frei hat? Warum hat sie kein Klapprad dabei, dann könnte sie nach dem Meeting und vor dem bescheuerten Abendessen noch eine Runde drehen? Es genauso machen wie der Mann gegenüber, eigentlich sieht er sehr nett aus, säße er hier auf Bahnsteig acht, würde sie ihn ansprechen. Vielleicht würde er ihr dabei helfen, mit immer noch feuchten Haaren nicht ungeduldig und zunehmend schlecht gelaunt zu warten, sondern einfach die Zeit zu geniessen und ein bisschen davon zu sparen. Aber für was eigentlich?
Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Warten
RAU
„Information für ICE 508 nach München, heute circa zwanzig Minuten später wegen eines Notarzteinsatzes.“
Da hätte sie sich nicht so beeilen müssen und locker noch zuhause die Haare föhnen können. Jetzt liegen sie feucht und platt am Kopf, dass sie sogar leicht frösteln muss. Bekommt sie jetzt zwanzig Minuten geschenkt, fragt sie sich. Natürlich nicht. Obwohl sie jetzt doch beginnt, genauer zu überlegen, aber so einfach geht das heute morgen noch nicht.
Wie immer vor einer Abfahrt hat sie schlecht geschlafen, was Dreierlei bedeutet. Spät eingeschlafen, öfters aufgewacht und zu früh wach geworden. In Summe hat sie nicht mehr als fünf Stunden geschlafen, was eindeutig zu wenig ist, zumal vor einem wichtigen Meeting. Und heute Abend geht es mit dem Kunden noch ins Restaurant, mittlerweile verflucht sie diese Außentermine. Aber sie ist Alberts bestes Pferd im Stall, wie er sagt, Akquise kann niemand so wie du, sagt er, und sie weiß es selber auch.
Sie greift zum Smartphone und sieht auf der Deutsche Bahn App nach ihren nächsten Anschlussmöglichkeiten in München, denn sie muss noch weiter nach Rosenheim. Beginnt den zweitägigen Termin zu verfluchen. Wie lange macht sie diesen Job schon, und wäre nicht langsam Zeit für etwas Anderes? Bloß nicht jetzt am frühen Morgen und ohne Frühstück diese schwierigen Fragen. Dann steht sie einfach so rum und sieht ins Leere. Was so auch wieder nicht stimmt, denn schon am nächsten Gleis bleiben ihre Augen an einem älteren Mann hängen, oder ist er doch so alt wie sie? In Radsportkleidung sitzt er auf der einzigen Bank, neben sich Rucksack und ein stylisches Klapprad, und tippt auf seinem Laptop. Würde sie ihren Laptop mit auf eine Radtour nehmen? Aber so einfach wie früher lassen sich heute die Anderen eben auch nicht mehr ohne Weiteres einordnen. Vielleicht fährt er auch zu einem Meeting oder ist auf der Rückfahrt und wartet auf seinen Anschluss nach Hause? War nebenher sportlich unterwegs oder wird es sein?
„ICE 508 nach München, heute circa vierzig Minuten Verspätung.“
Der Bahnsteig füllt sich immer mehr, es wird zu Smartphones, Snacks und Getränken gegriffen, die einzigen vier Sitzplätze sind belegt. Wann hat wer eigentlich dafür gesorgt, dass es so gut wie keine Sitzgelegenheiten mehr auf den Bahnsteigen gibt? Hat das mit den Terroranschlägen der letzten Jahre zu tun, die es zum Glück so nicht mehr gibt? Dafür haben wir jetzt andere Probleme. Es wird nicht leichter, nirgends, nur in der Phantasie.
Der Radfahrer tippt unbeirrt auf seinem Laptop als säße er im Büro. Unruhe verbreitet er nicht. So wie sie, mittlerweile ist sie auf dem zugigen Bahnsteig sicherlich schon viermal hin- und hergegangen. Erst zehn Minuten Warterei hat sie geschafft, noch viermal soviel liegt vor ihr. Geschenkte Zeit? Dass sie nicht lacht. Gestohlene Zeit, in der sie wer weiß was hätte machen können. Haare föhnen, in Ruhe frühstücken, mit Konrad noch das Wochenende besprechen. Oder die Papiere fürs Meeting nochmal durchgehen, dann braucht sie es nachher nicht mehr im Zug zu machen? Ihre Nachrichten checken oder sich auf Spiegelonline das Neuste von der Nacht und vom Tage durchlesen und sich die Laune verderben lassen? Oder soll sie jetzt alles hier sofort auf dem zugigen Bahnsteig erledigen, damit sie nachher auf ihrem weichen Sitz frei hat? Warum hat sie kein Klapprad dabei, dann könnte sie nach dem Meeting und vor dem bescheuerten Abendessen noch eine Runde drehen? Es genauso machen wie der Mann gegenüber, eigentlich sieht er sehr nett aus, säße er hier auf Bahnsteig acht, würde sie ihn ansprechen. Vielleicht würde er ihr dabei helfen, mit immer noch feuchten Haaren nicht ungeduldig und zunehmend schlecht gelaunt zu warten, sondern einfach die Zeit zu geniessen und ein bisschen davon zu sparen. Aber für was eigentlich?