Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Verzichten
WIE
1
Früher gab es noch den Sendeschluss, dann musste man abschalten, es kam nichts mehr. Heute sind vierundzwanzig Stunden und sieben Tage das Maß der Dinge, am Kiosk, beim Onlineversand, bei der Fastfood-Bestellung. Wir sollen alle mehr verzichten, heißt es, aber das ist nicht immer einfach.
2
Mein Kollege raucht jetzt schon seit vier Wochen nicht mehr. Es fällt ihm relativ leicht zu verzichten, erklärt er mir stolz, während er mit einer Tüte Lakritze recht nah an meinem Ohr rum knistert. „Es reicht, schon lange genug verzichtet“, höre ich ihn lamentieren. „Bevor es jetzt wieder zu irgendwelchen Einschränkungen kommt, geht es erst mal auf Malle, und da lasse ich es so richtig krachen. Verzichten, schön und gut, bin ich dabei, aber danach muss man sich es sich auch mal richtig gut gehen lassen.“
3
Yoga und Bodengymnastik tun weh, es zieht an Beinen und Gelenken. Schmerzen, auf die man normalerweise gerne verzichtet. Der gewohnte Unterhaltungswert fehlt beim Meditieren, Pointen sucht man vergebens. Dennoch sind derartige Übungen angeblich lohnenswert, Entspannung, Ausgeglichenheit, Ruhe und Gelassenheit werden als Lohn für den Verzicht gepriesen. Wem das nicht reicht, der kann mit der Anschaffung von Duftkerzen, Meditationskissen und -CD's, Gongs, Räucherstäbchen, Yogamatten und Gymnastikkleidung, sich noch weiter entschädigen.
4
Eine gute Freundin hat letztes Jahr beschlossen, nicht mehr länger auf Süßes zu verzichten. „Ich verzichte auf den Anspruch, immer nur schlank sein und eine sportliche Figur haben zu müssen“, erklärt sie jedem, der ihr beim Verzehr eine Packung Pralinen zuschaut.
5
Ich schaue zufällig in die Fernsehzeitung und werde nur von Dingen umworben, die die Ergebnisse des Verzichtens versprechen ohne dabei wirklich verzichten zu müssen. Produkte zum Abnehmen, bei denen man so viel essen kann wie man will. Es gibt auch Sessel, in denen man sitzen bleiben kann und dennoch Muskeln aufbaut. Oder Vitaminprodukte, die klüger machen ohne etwas lernen oder nachdenken zu müssen, genauso wie Kosmetikprodukte, die gesund aussehen lassen ohne gesund sein zu müssen.
6
In dieser Woche überschlagen sich die Fotos auf den Illustrierten, eine äußerst prominente Person, allseits bekannt als Schwergewicht, ist zur schlanken Person geworden. Auf fast sämtlichen Titelseiten, in sämtlichen Talkshows ist sie zu sehen, außerdem wird sein neues Buch zum Thema Abnehmen gleich mit angepriesen.
7
Der Verkaufsberater im Möbelcenter erklärt, wer Geld sparen will, muss nicht verzichten. Denn nur wer günstig kauft, kann sich vom Ersparten noch mehr leisten. So macht Verzichten doch Spaß, meint er. Ich habe ihm spontan nichts entgegen zu setzen.
8
Der Einkauf mit meinen kleinen Nichten und Neffen kurz vor der Kasse zeigt mir, wie schwer es ist, schlagfertige Argumente fürs Verzichten parat zu haben. Darum argumentiere ich einfach, „Nein es reicht, und damit basta.“
9
In den Nachrichten wird von guten Wirtschaftsprognosen und von langsam steigenden Wachstumsraten gesprochen. Und wie wichtig es für uns alle ist, dass das Weihnachtsgeschäft, die Reiseindustrie, der Einzelhandel, die Auto- und Möbelindustrie endlich wieder boomen. Es hat eben auch was Gutes, wenn wir uns was gönnen, damit nicht alles zusammenbricht. Nicht dass wir eines Tages verzichten müssen, also richtig verzichten, mit Verzicht und so.
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Verzichten
WIE
1
Früher gab es noch den Sendeschluss, dann musste man abschalten, es kam nichts mehr. Heute sind vierundzwanzig Stunden und sieben Tage das Maß der Dinge, am Kiosk, beim Onlineversand, bei der Fastfood-Bestellung. Wir sollen alle mehr verzichten, heißt es, aber das ist nicht immer einfach.
2
Mein Kollege raucht jetzt schon seit vier Wochen nicht mehr. Es fällt ihm relativ leicht zu verzichten, erklärt er mir stolz, während er mit einer Tüte Lakritze recht nah an meinem Ohr rum knistert. „Es reicht, schon lange genug verzichtet“, höre ich ihn lamentieren. „Bevor es jetzt wieder zu irgendwelchen Einschränkungen kommt, geht es erst mal auf Malle, und da lasse ich es so richtig krachen. Verzichten, schön und gut, bin ich dabei, aber danach muss man sich es sich auch mal richtig gut gehen lassen.“
3
Yoga und Bodengymnastik tun weh, es zieht an Beinen und Gelenken. Schmerzen, auf die man normalerweise gerne verzichtet. Der gewohnte Unterhaltungswert fehlt beim Meditieren, Pointen sucht man vergebens. Dennoch sind derartige Übungen angeblich lohnenswert, Entspannung, Ausgeglichenheit, Ruhe und Gelassenheit werden als Lohn für den Verzicht gepriesen. Wem das nicht reicht, der kann mit der Anschaffung von Duftkerzen, Meditationskissen und -CD's, Gongs, Räucherstäbchen, Yogamatten und Gymnastikkleidung, sich noch weiter entschädigen.
4
Eine gute Freundin hat letztes Jahr beschlossen, nicht mehr länger auf Süßes zu verzichten. „Ich verzichte auf den Anspruch, immer nur schlank sein und eine sportliche Figur haben zu müssen“, erklärt sie jedem, der ihr beim Verzehr eine Packung Pralinen zuschaut.
5
Ich schaue zufällig in die Fernsehzeitung und werde nur von Dingen umworben, die die Ergebnisse des Verzichtens versprechen ohne dabei wirklich verzichten zu müssen. Produkte zum Abnehmen, bei denen man so viel essen kann wie man will. Es gibt auch Sessel, in denen man sitzen bleiben kann und dennoch Muskeln aufbaut. Oder Vitaminprodukte, die klüger machen ohne etwas lernen oder nachdenken zu müssen, genauso wie Kosmetikprodukte, die gesund aussehen lassen ohne gesund sein zu müssen.
6
In dieser Woche überschlagen sich die Fotos auf den Illustrierten, eine äußerst prominente Person, allseits bekannt als Schwergewicht, ist zur schlanken Person geworden. Auf fast sämtlichen Titelseiten, in sämtlichen Talkshows ist sie zu sehen, außerdem wird sein neues Buch zum Thema Abnehmen gleich mit angepriesen.
7
Der Verkaufsberater im Möbelcenter erklärt, wer Geld sparen will, muss nicht verzichten. Denn nur wer günstig kauft, kann sich vom Ersparten noch mehr leisten. So macht Verzichten doch Spaß, meint er. Ich habe ihm spontan nichts entgegen zu setzen.
8
Der Einkauf mit meinen kleinen Nichten und Neffen kurz vor der Kasse zeigt mir, wie schwer es ist, schlagfertige Argumente fürs Verzichten parat zu haben. Darum argumentiere ich einfach, „Nein es reicht, und damit basta.“
9
In den Nachrichten wird von guten Wirtschaftsprognosen und von langsam steigenden Wachstumsraten gesprochen. Und wie wichtig es für uns alle ist, dass das Weihnachtsgeschäft, die Reiseindustrie, der Einzelhandel, die Auto- und Möbelindustrie endlich wieder boomen. Es hat eben auch was Gutes, wenn wir uns was gönnen, damit nicht alles zusammenbricht. Nicht dass wir eines Tages verzichten müssen, also richtig verzichten, mit Verzicht und so.