Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Tomaten weinen
RAU
Die kleine Nachricht unter ‚Panorama‘ liest Charlotte gleich zweimal und traut ihren Augen nicht: Wissenschaftler haben mit extrem empfindlichen Mikrophonen herausgefunden, dass Tomaten unter schlechten Lebensbedingungen mehr Geräusche von sich geben als unter guten. Wenn Bodenqualität, Nährstoffe, Licht und Feuchtigkeit nicht stimmen, werden sie also ziemlich laut.
Ist das wirklich vorstellbar? Dass wir mittlerweile in einer Welt leben, in der wir den Planeten mehr und mehr ruinieren und die Klagen der Pflanzen darüber gar nicht hören können? Welchen Lärm veranstalten sie da? Vielleicht aber auch nur in Südspanien oder in holländischen Gewächshäusern?
Charlotte schließt die Zeitung und greift erst einmal zum Wasserglas. Stellt sich sofort schreckliche Geräusche vor, schrilles Quietschen, lautes Quaken, Schluchzen, Piepen und Pfeifen, denn eine wohlklingende Symphonie wird es ja wohl nicht sein, die da zusammenkommt. Stehen wir womöglich vor einer Zukunft, in der wir eines Tages nur noch mit dicken Kopfhörern durch die Welt laufen werden, um das Getöse und Geschrei der Pflanzen nicht hören zu müssen?
Ein Gin Tonic wäre jetzt recht, aber es ist erst halb fünf, und frühestens ab fünf Uhr erlaubt sie sich manchmal einen so wie seinerzeit auch Queen Mum, die stolze einhundert und zwei Jahre alt wurde. Hat sie selber überhaupt noch eine reelle Chance, so alt zu werden?
Einigermassen beunruhigt geht sie auf den Balkon hinaus und betrachtet ihre fünfzehn Blumentöpfe, überprüft mit dem Finger die Erde, wässert nach und zupft Verblühtes ab. Nimmt sich vor, gleich morgen frischen Dünger zu kaufen. Sieht dann hinunter in den großen, begrünten Innenhof mit vielen alten Bäumen, vertrockneten Rasenflächen und etlichen Blumen- und auch ein paar Gemüsebeeten. Links an der Hauswand zieht die nette Engländerin aus dem Nebenhaus sogar Tomatenpflanzen in großen Tontöpfen hoch. Sie studiert irgendetwas Technisches und dürfte noch keine Dreißig sein, hat also noch Hoffnung für die Natur und auch für ihr Leben. So ein Unsinn, denkt sich Charlotte, nun drifte mal nicht in eine Endzeitstimmung ab, die junge Mrs. Egglestone gärtnert eben einfach gerne.
Aber stehen die Tomaten nicht viel zu sehr in der prallen Sonne und bräuchten sie nicht von oben einen Wasserschutz. Manchmal regnet es ja doch noch. Vielleicht geht es den Tomaten dort unten in dem idyllischen städtischen Hinterhof ja in Wirklichkeit ganz hundsmiserabel? Genauso wie den Kastanien und Linden, Hortensien, Salat, Gurke und Kohl? Vielleicht surren, schreien, kreischen und weinen sie alle permanent dort unten und im ganzen Land, auf dem Kontinent und dem Planeten schon ganz lange um ihr Leben und wir dummen, einfältigen und hochnäsigen Menschen hören sie nur einfach nicht?
Charlotte wird leicht schwindelig und geht wieder in das kühle Wohnzimmer. Vielleicht passen sich die Pflanzen aber auch an, versucht sie sich zu beruhigen. Hieß es nicht früher im Biologieunterricht, dass genau das die Evolution ausmacht? Einige schaffen die Veränderungen und andere eben nicht.
Und überhaupt, dann bestreichen wir unsere Pizzen eben in Zukunft mit einem anderen, veganen roten Belag und finden etwas Anderes für Suppen, Gulasch und Bolognese, beruhigt sie sich. Hätte sie nur vorhin nicht den kleinen Artikel gelesen, denkt sie und sieht auf die Uhr. 16.45 Uhr. Sorry, murmelt sie vor sich hin, aber heute brauche ich den Gin Tonic früher, sonst wird mir noch richtig schlecht.
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Tomaten weinen
RAU
Die kleine Nachricht unter ‚Panorama‘ liest Charlotte gleich zweimal und traut ihren Augen nicht: Wissenschaftler haben mit extrem empfindlichen Mikrophonen herausgefunden, dass Tomaten unter schlechten Lebensbedingungen mehr Geräusche von sich geben als unter guten. Wenn Bodenqualität, Nährstoffe, Licht und Feuchtigkeit nicht stimmen, werden sie also ziemlich laut.
Ist das wirklich vorstellbar? Dass wir mittlerweile in einer Welt leben, in der wir den Planeten mehr und mehr ruinieren und die Klagen der Pflanzen darüber gar nicht hören können? Welchen Lärm veranstalten sie da? Vielleicht aber auch nur in Südspanien oder in holländischen Gewächshäusern?
Charlotte schließt die Zeitung und greift erst einmal zum Wasserglas. Stellt sich sofort schreckliche Geräusche vor, schrilles Quietschen, lautes Quaken, Schluchzen, Piepen und Pfeifen, denn eine wohlklingende Symphonie wird es ja wohl nicht sein, die da zusammenkommt. Stehen wir womöglich vor einer Zukunft, in der wir eines Tages nur noch mit dicken Kopfhörern durch die Welt laufen werden, um das Getöse und Geschrei der Pflanzen nicht hören zu müssen?
Ein Gin Tonic wäre jetzt recht, aber es ist erst halb fünf, und frühestens ab fünf Uhr erlaubt sie sich manchmal einen so wie seinerzeit auch Queen Mum, die stolze einhundert und zwei Jahre alt wurde. Hat sie selber überhaupt noch eine reelle Chance, so alt zu werden?
Einigermassen beunruhigt geht sie auf den Balkon hinaus und betrachtet ihre fünfzehn Blumentöpfe, überprüft mit dem Finger die Erde, wässert nach und zupft Verblühtes ab. Nimmt sich vor, gleich morgen frischen Dünger zu kaufen. Sieht dann hinunter in den großen, begrünten Innenhof mit vielen alten Bäumen, vertrockneten Rasenflächen und etlichen Blumen- und auch ein paar Gemüsebeeten. Links an der Hauswand zieht die nette Engländerin aus dem Nebenhaus sogar Tomatenpflanzen in großen Tontöpfen hoch. Sie studiert irgendetwas Technisches und dürfte noch keine Dreißig sein, hat also noch Hoffnung für die Natur und auch für ihr Leben. So ein Unsinn, denkt sich Charlotte, nun drifte mal nicht in eine Endzeitstimmung ab, die junge Mrs. Egglestone gärtnert eben einfach gerne.
Aber stehen die Tomaten nicht viel zu sehr in der prallen Sonne und bräuchten sie nicht von oben einen Wasserschutz. Manchmal regnet es ja doch noch. Vielleicht geht es den Tomaten dort unten in dem idyllischen städtischen Hinterhof ja in Wirklichkeit ganz hundsmiserabel? Genauso wie den Kastanien und Linden, Hortensien, Salat, Gurke und Kohl? Vielleicht surren, schreien, kreischen und weinen sie alle permanent dort unten und im ganzen Land, auf dem Kontinent und dem Planeten schon ganz lange um ihr Leben und wir dummen, einfältigen und hochnäsigen Menschen hören sie nur einfach nicht?
Charlotte wird leicht schwindelig und geht wieder in das kühle Wohnzimmer. Vielleicht passen sich die Pflanzen aber auch an, versucht sie sich zu beruhigen. Hieß es nicht früher im Biologieunterricht, dass genau das die Evolution ausmacht? Einige schaffen die Veränderungen und andere eben nicht.
Und überhaupt, dann bestreichen wir unsere Pizzen eben in Zukunft mit einem anderen, veganen roten Belag und finden etwas Anderes für Suppen, Gulasch und Bolognese, beruhigt sie sich. Hätte sie nur vorhin nicht den kleinen Artikel gelesen, denkt sie und sieht auf die Uhr. 16.45 Uhr. Sorry, murmelt sie vor sich hin, aber heute brauche ich den Gin Tonic früher, sonst wird mir noch richtig schlecht.