Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
So tun als ob
RAU
Dass es gut ist, dass alles stimmt, alles wunderbar ist. Was man halt so antwortet, wenn man gefragt wird. Niemand soll etwas merken. Keine weiteren Fragen bitte, nur nicht auffallen, nur kein Mitleid oder mögliche Schadenfreude.
Wer kennt sie nicht, die falschen Antworten. In den letzten Wochen haben sie bei mir zugenommen, denn ich habe gerade das Gefühl, dass es nicht mehr richtig stimmt. Das mit Rosa und Katinka nicht, die Arbeit im Amt und selbst die Fotografie am Wochenende nicht mehr. Hochzeitspaare kann ich, ehrlich gesagt, kaum noch ertragen mit all ihrem Glücksgegluckse, ihren feierlich-ausgelassenen Stimmungen, schicken Kleidern, ausgewählten Locations, üppigen Blumenbouquets, aufwändigen Tischdekorationen, lustigen Reden, mit ihren strahlenden Familien und Freunden. Alle wünschen dem Paar lebenslanges Glück, dabei weiß man doch, dass es oft anders kommt. Wird nicht mittlerweile jede dritte Ehe in unserem Land geschieden? Und doch machen sich jedes Jahr Hundertschaften junger und junggebliebener Leute zum Standesamt auf. Sagen ja und feiern, was das Zeug hält, und ich halte mit meiner Kamera den Start ins gemeinsame Leben fest. Zumindest muss ich dabei nicht pausenlos so tun, als ob auch ich an das lebenslange Eheglück glaube, sondern kann mich hinter dem Sucher meiner Nikon den fotografischen Herausforderungen widmen, kann Lampen und Stative aufbauen, Objektive und Standorte wechseln und mich auf diese Weise aus dem Glückstrubel herausbeamen.
Bei mir selber bin ich gerade leider nicht ganz so professionell unterwegs. In einer Woche werde ich Rosa besuchen, und dann? Katinka wird in zwei Monaten die Stadt verlassen, und dann? Im Amt bekomme ich Anfang des Jahres eine neue Chefin, und für das nächste Jahr sind bis jetzt viel zu wenig Fotoaufträge eingegangen. Aber meiner Familie, meinen Frauen und Freunden gegenüber tue ich natürlich so, als sei alles wie immer. Und wie geht‘s? Sehr gut, alles prima.
Bei anderen aber spüre ich es sofort. Wenn Lars mir weismachen will, dass der große Auftrag in den nächsten Tagen reinkommen wird, ahne ich, dass er womöglich noch nicht mal mit dem zuständigen Redakteur gesprochen hat oder seinen Honorarforderungen nicht im Ansatz entsprochen werden wird. Wenn Wolf mir von seiner Frau erzählt, dass sie sich gut im Heim eingelebt hat, weiß ich, dass er es vor allem ist, der sich genau das sehnsüchtig wünscht, damit sein schlechtes Gewissen ihn nicht um den Verstand bringt. Wenn im Amt ein älteres Ehepaar vor meinem Schreibtisch sitzt, beide ordentlich gekleidet und frisiert, sie sogar mit Perlenkette und Ohrringen geschmückt, und ihren neuen Wohnsitz anmelden hinten in der Sozialsiedlung am Rande des Bezirks in der Moritzstraße, dann ahne ich, dass sie Rentenaufstocker sind und sich womöglich wöchentlich bei der Tafel Lebensmittel holen. Ich sehe ihren abgestoßenen Blusenkragen, den nicht mehr modischen Rock und dass seine abgetragenen Schuhe von Prada auch schon bessere Tage gesehen haben. Aber ich sehe auch ihre Würde, mit der sie sich in der verrufenen Moritzstraße anmelden und so tun, als wäre es das Normalste der Welt. Was sie wohl ihren Freunden und Familien erzählen, wo sie jetzt wohnen?
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RAU
Dass es gut ist, dass alles stimmt, alles wunderbar ist. Was man halt so antwortet, wenn man gefragt wird. Niemand soll etwas merken. Keine weiteren Fragen bitte, nur nicht auffallen, nur kein Mitleid oder mögliche Schadenfreude.
Wer kennt sie nicht, die falschen Antworten. In den letzten Wochen haben sie bei mir zugenommen, denn ich habe gerade das Gefühl, dass es nicht mehr richtig stimmt. Das mit Rosa und Katinka nicht, die Arbeit im Amt und selbst die Fotografie am Wochenende nicht mehr. Hochzeitspaare kann ich, ehrlich gesagt, kaum noch ertragen mit all ihrem Glücksgegluckse, ihren feierlich-ausgelassenen Stimmungen, schicken Kleidern, ausgewählten Locations, üppigen Blumenbouquets, aufwändigen Tischdekorationen, lustigen Reden, mit ihren strahlenden Familien und Freunden. Alle wünschen dem Paar lebenslanges Glück, dabei weiß man doch, dass es oft anders kommt. Wird nicht mittlerweile jede dritte Ehe in unserem Land geschieden? Und doch machen sich jedes Jahr Hundertschaften junger und junggebliebener Leute zum Standesamt auf. Sagen ja und feiern, was das Zeug hält, und ich halte mit meiner Kamera den Start ins gemeinsame Leben fest. Zumindest muss ich dabei nicht pausenlos so tun, als ob auch ich an das lebenslange Eheglück glaube, sondern kann mich hinter dem Sucher meiner Nikon den fotografischen Herausforderungen widmen, kann Lampen und Stative aufbauen, Objektive und Standorte wechseln und mich auf diese Weise aus dem Glückstrubel herausbeamen.
Bei mir selber bin ich gerade leider nicht ganz so professionell unterwegs. In einer Woche werde ich Rosa besuchen, und dann? Katinka wird in zwei Monaten die Stadt verlassen, und dann? Im Amt bekomme ich Anfang des Jahres eine neue Chefin, und für das nächste Jahr sind bis jetzt viel zu wenig Fotoaufträge eingegangen. Aber meiner Familie, meinen Frauen und Freunden gegenüber tue ich natürlich so, als sei alles wie immer. Und wie geht‘s? Sehr gut, alles prima.
Bei anderen aber spüre ich es sofort. Wenn Lars mir weismachen will, dass der große Auftrag in den nächsten Tagen reinkommen wird, ahne ich, dass er womöglich noch nicht mal mit dem zuständigen Redakteur gesprochen hat oder seinen Honorarforderungen nicht im Ansatz entsprochen werden wird. Wenn Wolf mir von seiner Frau erzählt, dass sie sich gut im Heim eingelebt hat, weiß ich, dass er es vor allem ist, der sich genau das sehnsüchtig wünscht, damit sein schlechtes Gewissen ihn nicht um den Verstand bringt. Wenn im Amt ein älteres Ehepaar vor meinem Schreibtisch sitzt, beide ordentlich gekleidet und frisiert, sie sogar mit Perlenkette und Ohrringen geschmückt, und ihren neuen Wohnsitz anmelden hinten in der Sozialsiedlung am Rande des Bezirks in der Moritzstraße, dann ahne ich, dass sie Rentenaufstocker sind und sich womöglich wöchentlich bei der Tafel Lebensmittel holen. Ich sehe ihren abgestoßenen Blusenkragen, den nicht mehr modischen Rock und dass seine abgetragenen Schuhe von Prada auch schon bessere Tage gesehen haben. Aber ich sehe auch ihre Würde, mit der sie sich in der verrufenen Moritzstraße anmelden und so tun, als wäre es das Normalste der Welt. Was sie wohl ihren Freunden und Familien erzählen, wo sie jetzt wohnen?