Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Schlechte Laune
RAU
Heute Abend sind wir bei meiner Schwester und ihrem Mann zum Essen eingeladen. Wie soll das gehen? Fahrtechnisch liegen wir nur eine halbe Stunde mit dem Wagen auseinander, aber ansonsten trennen uns Welten. Deshalb sehen wir uns auch nicht so häufig.
Meine jüngere Schwester Ina ist ja in Ordnung, wir treffen uns öfter mal alleine, wäre sie nur nicht seit Jahren schon mit Jörg verheiratet. Einem gut verdienenden Rechtsanwalt, einem elendigen Rechthaber und Dauernörgler. Immer weiß er nicht nur alles besser, sondern will dich auch noch stundenlang belehren. Da stößt er bei mir natürlich auf Granit. Nur meiner Schwester zuliebe halte ich meistens meinen Mund, lasse ihn schwadronieren und genieße währenddessen seine teuren Weine und Inas köstliche Schmakazien. Ein faires Tauschgeschäft, wie ich finde. Natürlich mache ich mir auch meine Gedanken, warum sie nicht schon längst diesen Mann verlassen hat, aber eine jede Ehe hat ja ihre Geheimnisse.
Nachdem sich Schwager Jörg, Anfang fünfzig und wohlbeleibt, über unfähige Kollegen und Mitarbeiter, die schlecht arbeitende Regierung und die noch ineffektiver arbeitende Stadtverwaltung, die hohen Sprit- und Energiepreise und die vielen Obdachlosen aufgeregt hat, wechselt er zur Jammerei. Dass er jeden Tag bis zum Umfallen schuftet und nicht dafür gewürdigt wird (möchtest du das Bundesverdienstkreuz haben, habe ich ihn beim letzten Mal gefragt). Dass seine Kinder ihm vorwerfen, dass er nie da sei, dass seine leidigen Rückenschmerzen nicht besser werden, jetzt auch Schulterbeschwerden dazugekommen sind, und er oft nächtelang wach liegt. Derweil serviert Ina ihre Köstlichkeiten und schweigt. Wartet geduldig die Schimpf- und Jammertiraden ab wie wir anderen Gäste auch, und wenn sich Herr Jörg leer geschimpft und ausgejammert hat, kommt man endlich zum einigermaßen gemütlichen Teil des Abends, an dem er dann nur noch mit seiner Besserwisserei nervt.
Heute aber werde ich auf jeden Fall den Besuch absagen, denn heute habe ich schlechte Laune. Habe sie schon die ganze Woche, werde sie nicht los und komme einfach nicht raus aus dem grauen Mustopf. Stefans liebe Aufmunterungen helfen nicht, die neue Tageslichtlampe auch nicht, davon brennen leider nur meine Augen, und auch keiner der üblichen Vorschläge aus dem Internet und der Apothekenumschau hilft. Spaziergänge, Musik anmachen und wild durch die Wohnung tanzen, mit Freunden zusammen kochen, warme Bäder nehmen und heiße Tees trinken, Massagen. Alles probiert, nichts hat geholfen. Solange der hell-, mittel-, dunkelgraue oder anthrazitfarbene, feucht nasse Schleier über allem liegt und die Stadt scheinbar schon vor Wochen die Sonne verkauft hat, wird auch nichts helfen. Da bin ich mir sicher.
Für heute Abend gäbe es nur eine Möglichkeit, Jörg und ich starten einen Wettkampf ums Aufregen, Jammern, Schimpfen und Besser-Wissen. Schmettern uns all das um die Ohren wie Tennisprofis ihre Bälle beim French-Open-Turnier. Ina und die anderen Gäste vergeben die Punkte. Die Vorstellung, alles dafür zu tun, um meinen Schwager heute Abend zu schlagen, erfüllt mich auf einmal mit einiger Energie. Ich werde meine Schwester Ina gleich anrufen und ihr für den Abend zusagen.
Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Schlechte Laune
RAU
Heute Abend sind wir bei meiner Schwester und ihrem Mann zum Essen eingeladen. Wie soll das gehen? Fahrtechnisch liegen wir nur eine halbe Stunde mit dem Wagen auseinander, aber ansonsten trennen uns Welten. Deshalb sehen wir uns auch nicht so häufig.
Meine jüngere Schwester Ina ist ja in Ordnung, wir treffen uns öfter mal alleine, wäre sie nur nicht seit Jahren schon mit Jörg verheiratet. Einem gut verdienenden Rechtsanwalt, einem elendigen Rechthaber und Dauernörgler. Immer weiß er nicht nur alles besser, sondern will dich auch noch stundenlang belehren. Da stößt er bei mir natürlich auf Granit. Nur meiner Schwester zuliebe halte ich meistens meinen Mund, lasse ihn schwadronieren und genieße währenddessen seine teuren Weine und Inas köstliche Schmakazien. Ein faires Tauschgeschäft, wie ich finde. Natürlich mache ich mir auch meine Gedanken, warum sie nicht schon längst diesen Mann verlassen hat, aber eine jede Ehe hat ja ihre Geheimnisse.
Nachdem sich Schwager Jörg, Anfang fünfzig und wohlbeleibt, über unfähige Kollegen und Mitarbeiter, die schlecht arbeitende Regierung und die noch ineffektiver arbeitende Stadtverwaltung, die hohen Sprit- und Energiepreise und die vielen Obdachlosen aufgeregt hat, wechselt er zur Jammerei. Dass er jeden Tag bis zum Umfallen schuftet und nicht dafür gewürdigt wird (möchtest du das Bundesverdienstkreuz haben, habe ich ihn beim letzten Mal gefragt). Dass seine Kinder ihm vorwerfen, dass er nie da sei, dass seine leidigen Rückenschmerzen nicht besser werden, jetzt auch Schulterbeschwerden dazugekommen sind, und er oft nächtelang wach liegt. Derweil serviert Ina ihre Köstlichkeiten und schweigt. Wartet geduldig die Schimpf- und Jammertiraden ab wie wir anderen Gäste auch, und wenn sich Herr Jörg leer geschimpft und ausgejammert hat, kommt man endlich zum einigermaßen gemütlichen Teil des Abends, an dem er dann nur noch mit seiner Besserwisserei nervt.
Heute aber werde ich auf jeden Fall den Besuch absagen, denn heute habe ich schlechte Laune. Habe sie schon die ganze Woche, werde sie nicht los und komme einfach nicht raus aus dem grauen Mustopf. Stefans liebe Aufmunterungen helfen nicht, die neue Tageslichtlampe auch nicht, davon brennen leider nur meine Augen, und auch keiner der üblichen Vorschläge aus dem Internet und der Apothekenumschau hilft. Spaziergänge, Musik anmachen und wild durch die Wohnung tanzen, mit Freunden zusammen kochen, warme Bäder nehmen und heiße Tees trinken, Massagen. Alles probiert, nichts hat geholfen. Solange der hell-, mittel-, dunkelgraue oder anthrazitfarbene, feucht nasse Schleier über allem liegt und die Stadt scheinbar schon vor Wochen die Sonne verkauft hat, wird auch nichts helfen. Da bin ich mir sicher.
Für heute Abend gäbe es nur eine Möglichkeit, Jörg und ich starten einen Wettkampf ums Aufregen, Jammern, Schimpfen und Besser-Wissen. Schmettern uns all das um die Ohren wie Tennisprofis ihre Bälle beim French-Open-Turnier. Ina und die anderen Gäste vergeben die Punkte. Die Vorstellung, alles dafür zu tun, um meinen Schwager heute Abend zu schlagen, erfüllt mich auf einmal mit einiger Energie. Ich werde meine Schwester Ina gleich anrufen und ihr für den Abend zusagen.