Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Reichlich Vorrat
RAU
Wenn man einen Menschen verliert, stürzt viel auf einen ein. Zur Trauer kommen jede Menge Dinge, die zu erledigen und auszuhalten sind, die Beerdigung ist zu organisieren, Papierkram abzuwickeln, irgendwann müssen Zimmer und Wohnung aufgeräumt oder aufgelöst werden.
Bei Charlotte ist es schon fast dreißig Jahre her, aber manchmal denkt sie, es war erst gestern. Als ihre Mutter nach langer, schwerer Krankheit in einem sehr heißen Sommer an Kreislaufversagen starb, dachte sie zunächst, endlich. Nun ist Mutter erlöst. Der Spuk ist vorbei. Nach Jahren ohne Sprachvermögen gelähmt und nur im Bett liegend ist sie endlich erlöst worden.
Ihre Schwester musste bald wieder zurück ins Ausland, also blieb ihr nichts anderes übrig, als alleine Mutters Sachen durchzusehen. Ein Wochenende brauchte sie damals, während Vater apathisch im Wohnzimmer saß und Zeitung las. Er konnte sich nach den schweren Jahren nicht auch noch mit den persönlichen Sachen seiner verstorbenen Frau beschäftigen. Viel war es nicht mehr, denn die Beschränktheit des Lebens hatte die Gegenstände im Laufe der Jahre schon reduziert. Mutter hatte selber noch ihre geliebten, schicken Schuhe in den Keller getragen, da standen sie jahrelang in Reih und Glied und erzählten stumm von besseren Zeiten und von Mutters Hoffnung.
Charlotte machte sich ans Räumen, verstaute Wäsche, Blusen, Röcke und Kleider, Mäntel, Schwimm- und Skisachen in große Plastiktüten. Fand im Wäscheschrank bald vierzig Seifenstücke, die für guten Duft gesorgt hatten, nie hatte Mutter auch nur eines weggeschmissen. Dann stieß sie im zweiten Schrank auf die ob-Packungen, sicherlich an die dreißig. Sie staunte nicht schlecht. Mutter war mit vierundfünfzig gestorben, da war sie längst in den Wechseljahren gewesen, hatte aber immer noch diesen mehr als reichlichen Vorrat gehortet? Hatte gar wieder auf ihre Tage gewartet und nicht wahrhaben wollen, dass die genauso wenig wiederkommen würden wie die Zeiten für schöne Schuhe?
Charlotte erinnert sich noch genau daran, wie sie damals vor dem Schrankfach stand, selber gerade damit beschäftigt, ob sie mit Konrad zusammengehen und eine Familie gründen solle, und beim Anblick der vielen Packungen plötzlich ein sehr intimes Geheimnis ihrer verstorbenen Mutter entdeckte. Hatte ihr niemand gesagt, dass es vorbei war mit den fruchtbaren Jahren? Dass sie längst Hormone bekommen hatte, damit die Pflege einfacher wurde? War es so wichtig für sie gewesen, eine noch fruchtbare Frau zu sein? Wie schwer war es gewesen, diese geheimen Wünsche und Hoffnungen auch noch auszuhalten neben all den anderen Gebrechen, die die heimtückische Krankheit mit sich brachten? Auch wenn sie noch hätte sprechen können, geredet hätte sie wohl nie mit irgendjemandem darüber.
Warum Charlotte das alles gerade wieder vor sich sieht? Weil sie im Drogeriemarkt vor dem Regal mit den Hygieneartikeln steht und überlegt, ob sie noch welche braucht. Weil sie jetzt auch in den Wechseljahren ist wie damals Mutter, aber absolut kein Verlangen spürt, sich unsinnige Vorräte anzulegen. In dieser Hinsicht zumindest werden ihre Töchter später einmal kein Geheimnis ihrer Mutter entdecken.
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Reichlich Vorrat
RAU
Wenn man einen Menschen verliert, stürzt viel auf einen ein. Zur Trauer kommen jede Menge Dinge, die zu erledigen und auszuhalten sind, die Beerdigung ist zu organisieren, Papierkram abzuwickeln, irgendwann müssen Zimmer und Wohnung aufgeräumt oder aufgelöst werden.
Bei Charlotte ist es schon fast dreißig Jahre her, aber manchmal denkt sie, es war erst gestern. Als ihre Mutter nach langer, schwerer Krankheit in einem sehr heißen Sommer an Kreislaufversagen starb, dachte sie zunächst, endlich. Nun ist Mutter erlöst. Der Spuk ist vorbei. Nach Jahren ohne Sprachvermögen gelähmt und nur im Bett liegend ist sie endlich erlöst worden.
Ihre Schwester musste bald wieder zurück ins Ausland, also blieb ihr nichts anderes übrig, als alleine Mutters Sachen durchzusehen. Ein Wochenende brauchte sie damals, während Vater apathisch im Wohnzimmer saß und Zeitung las. Er konnte sich nach den schweren Jahren nicht auch noch mit den persönlichen Sachen seiner verstorbenen Frau beschäftigen. Viel war es nicht mehr, denn die Beschränktheit des Lebens hatte die Gegenstände im Laufe der Jahre schon reduziert. Mutter hatte selber noch ihre geliebten, schicken Schuhe in den Keller getragen, da standen sie jahrelang in Reih und Glied und erzählten stumm von besseren Zeiten und von Mutters Hoffnung.
Charlotte machte sich ans Räumen, verstaute Wäsche, Blusen, Röcke und Kleider, Mäntel, Schwimm- und Skisachen in große Plastiktüten. Fand im Wäscheschrank bald vierzig Seifenstücke, die für guten Duft gesorgt hatten, nie hatte Mutter auch nur eines weggeschmissen. Dann stieß sie im zweiten Schrank auf die ob-Packungen, sicherlich an die dreißig. Sie staunte nicht schlecht. Mutter war mit vierundfünfzig gestorben, da war sie längst in den Wechseljahren gewesen, hatte aber immer noch diesen mehr als reichlichen Vorrat gehortet? Hatte gar wieder auf ihre Tage gewartet und nicht wahrhaben wollen, dass die genauso wenig wiederkommen würden wie die Zeiten für schöne Schuhe?
Charlotte erinnert sich noch genau daran, wie sie damals vor dem Schrankfach stand, selber gerade damit beschäftigt, ob sie mit Konrad zusammengehen und eine Familie gründen solle, und beim Anblick der vielen Packungen plötzlich ein sehr intimes Geheimnis ihrer verstorbenen Mutter entdeckte. Hatte ihr niemand gesagt, dass es vorbei war mit den fruchtbaren Jahren? Dass sie längst Hormone bekommen hatte, damit die Pflege einfacher wurde? War es so wichtig für sie gewesen, eine noch fruchtbare Frau zu sein? Wie schwer war es gewesen, diese geheimen Wünsche und Hoffnungen auch noch auszuhalten neben all den anderen Gebrechen, die die heimtückische Krankheit mit sich brachten? Auch wenn sie noch hätte sprechen können, geredet hätte sie wohl nie mit irgendjemandem darüber.
Warum Charlotte das alles gerade wieder vor sich sieht? Weil sie im Drogeriemarkt vor dem Regal mit den Hygieneartikeln steht und überlegt, ob sie noch welche braucht. Weil sie jetzt auch in den Wechseljahren ist wie damals Mutter, aber absolut kein Verlangen spürt, sich unsinnige Vorräte anzulegen. In dieser Hinsicht zumindest werden ihre Töchter später einmal kein Geheimnis ihrer Mutter entdecken.