Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Nicht mal das Schlimmste
RAU
Dieses Wort ist noch heute Vaters drittes Lieblingswort, ich scherze nicht. Bei ihm kommt es gleich nach Lisbeth und Wald. Das Wort ‚schlimm‘. Und das macht etwas mit einem, wenn der eigene Vater dieses Wort so oft benutzt. Denn er sagt es ja nicht nur, sondern denkt es auch mit allen Fasern seines Wesens, das ist mir schon früh klar geworden.
Seit ich denken kann, hat er immer diese dunkel getönte Brille vor den Augen, nie sieht er als Erstes das Schöne, Heitere, Leichte oder gar das Glück. Nein, immer erst die Arbeit und die Sorgen, das Schwere und das Schlimme. Der Wald stirbt, der Borkenkäfer nimmt zu, der saure Regen auch, die Sommer werden zu warm, Niederschläge nehmen ab, den Heerscharen von Wildschweinen wird man nicht mehr Herr. Schon vor dem Fall der Mauer war Vater ein Umweltmahner ohne es zu wissen. In unserer Stadt gab es damals und auch lange Zeit später niemanden, mit dem er sich über seine Sorgen hätte aussprechen können, und bis heute gilt er vielen als ewiger Miesepeter und Stimmungskiller.
Deshalb hat er auch keine Freunde. Dass er Vater zweier Kinder geworden ist, hat er seiner Frau Lisbeth, meiner Mutter, zu verdanken, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass er wirklich froh darüber ist, Kinder zu haben. Wenn Steffi und ich in den Ferien zuhause rumhingen, oder wir zu viert einen Ausflug unternommen haben, habe ich ihn manches Mal zu Mutter sagen hören: Vielleicht war es doch ein Fehler, Kinder zu bekommen. Nie hat man seine Ruhe, immer muss man Entscheidungen treffen, immer ist es laut und anstrengend.
Es ist nicht mal das Schlimmste gewesen, dass er so gedacht und es auch gesagt hat. Das Schlimmste ist gewesen, dass ich jahrelang versucht habe mich anzupassen. Dass ich alles dafür getan habe, dass er dieses Unglück seines Lebens, Vater zu sein, nicht hat spüren müssen. Ich war folgsam bis auf die Knochen, schüchtern, still und leise. Er war die Richtschnur im Haus. Wenn er Ruhe brauchte, waren wir still. Wenn er sich nach dem Mittagessen hinlegte, waren wir mucksmäuschenstill. Wie Mutter das ausgehalten hat, immer noch aushält, ist mir ein Rätsel.
Zuhause galt Vaters Regimes, also war ich ein scheuer und zurückhaltender Junge, der alles gemacht hat, um nicht zu stören. Draußen dann ein einigermaßen lebhafter, neugieriger, kleiner Kerl, der seine Augen und Ohren überall hatte und gierig alles aufgenommen hat, was sich bot.
Meine Rettung ist dann die Clique gewesen. Manche würden sagen Sex and Drugs and Rock’n Roll. Diese Jahre möchte ich niemals missen, denn sie haben den Grundstein gelegt für den, der ich heute bin. Wenn mich Mutter allerdings damals nicht da rausgeholt hätte, wäre ich elendig an den Drogen eingegangen. Wer weiß, vielleicht hätte Vater ja an meinem Grab gestanden und gedacht, ist jetzt nicht mal das Schlimmste? Das ist ganz schön böse von mir, ich weiß.
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Nicht mal das Schlimmste
RAU
Dieses Wort ist noch heute Vaters drittes Lieblingswort, ich scherze nicht. Bei ihm kommt es gleich nach Lisbeth und Wald. Das Wort ‚schlimm‘. Und das macht etwas mit einem, wenn der eigene Vater dieses Wort so oft benutzt. Denn er sagt es ja nicht nur, sondern denkt es auch mit allen Fasern seines Wesens, das ist mir schon früh klar geworden.
Seit ich denken kann, hat er immer diese dunkel getönte Brille vor den Augen, nie sieht er als Erstes das Schöne, Heitere, Leichte oder gar das Glück. Nein, immer erst die Arbeit und die Sorgen, das Schwere und das Schlimme. Der Wald stirbt, der Borkenkäfer nimmt zu, der saure Regen auch, die Sommer werden zu warm, Niederschläge nehmen ab, den Heerscharen von Wildschweinen wird man nicht mehr Herr. Schon vor dem Fall der Mauer war Vater ein Umweltmahner ohne es zu wissen. In unserer Stadt gab es damals und auch lange Zeit später niemanden, mit dem er sich über seine Sorgen hätte aussprechen können, und bis heute gilt er vielen als ewiger Miesepeter und Stimmungskiller.
Deshalb hat er auch keine Freunde. Dass er Vater zweier Kinder geworden ist, hat er seiner Frau Lisbeth, meiner Mutter, zu verdanken, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass er wirklich froh darüber ist, Kinder zu haben. Wenn Steffi und ich in den Ferien zuhause rumhingen, oder wir zu viert einen Ausflug unternommen haben, habe ich ihn manches Mal zu Mutter sagen hören: Vielleicht war es doch ein Fehler, Kinder zu bekommen. Nie hat man seine Ruhe, immer muss man Entscheidungen treffen, immer ist es laut und anstrengend.
Es ist nicht mal das Schlimmste gewesen, dass er so gedacht und es auch gesagt hat. Das Schlimmste ist gewesen, dass ich jahrelang versucht habe mich anzupassen. Dass ich alles dafür getan habe, dass er dieses Unglück seines Lebens, Vater zu sein, nicht hat spüren müssen. Ich war folgsam bis auf die Knochen, schüchtern, still und leise. Er war die Richtschnur im Haus. Wenn er Ruhe brauchte, waren wir still. Wenn er sich nach dem Mittagessen hinlegte, waren wir mucksmäuschenstill. Wie Mutter das ausgehalten hat, immer noch aushält, ist mir ein Rätsel.
Zuhause galt Vaters Regimes, also war ich ein scheuer und zurückhaltender Junge, der alles gemacht hat, um nicht zu stören. Draußen dann ein einigermaßen lebhafter, neugieriger, kleiner Kerl, der seine Augen und Ohren überall hatte und gierig alles aufgenommen hat, was sich bot.
Meine Rettung ist dann die Clique gewesen. Manche würden sagen Sex and Drugs and Rock’n Roll. Diese Jahre möchte ich niemals missen, denn sie haben den Grundstein gelegt für den, der ich heute bin. Wenn mich Mutter allerdings damals nicht da rausgeholt hätte, wäre ich elendig an den Drogen eingegangen. Wer weiß, vielleicht hätte Vater ja an meinem Grab gestanden und gedacht, ist jetzt nicht mal das Schlimmste? Das ist ganz schön böse von mir, ich weiß.