Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Mann am Meer
RAU
Drei Wochen hat sie sich für die Insel genommen, um gute Luft zu atmen, besser zu schlafen, viel zu lesen und zu gehen, für bessere Nerven und um zu vergessen. Auch am dritten Tag, als es sie gleich morgens nach dem Tee wieder an den Strand zieht, sieht sie ihn weit vorne gehen. Groß und schmal wie ein schwarzer Bleistift kämpft er gegen den Wind genau wie sie in Rot.
Viele sind so früh am Morgen nicht unterwegs. Doch wie an den Vortagen dreht er vorne an den ersten Strandkörben um, als sei seine Zeit begrenzt oder warte jemand auf ihn. Vielleicht ist er aber auch von hier und muss in die Arbeit. Wenn sie gleich aufeinander zulaufen werden, wird sie ihm wie schon gestern und vorgestern ins Gesicht sehen, in dieses schmale, fast noch faltenfreie, irgendwie jugendliche. Vielleicht ein paar Jahre jünger als sie, vielleicht auch nicht. Er sah sie beide Morgen zuerst an und nickte dabei freundlich mit dem schmalen Kopf. Dass ihr das wichtig ist, betrübt sie fast ein wenig. Mehr Mut sollte schon sein, gefreut hat sie es auf jeden Fall.
Noch zwanzig Meter vielleicht. Nein, sicherlich auch aus der Stadt, irgendwas treibt auch ihn um, irgendwas muss er loswerden. Sie stoppt ihre Gedanken und setzt ihre Füße in dem festeren Sand vorne am Wasserrand. Die Brille schützt vor dem beißenden Wind, der den Schmalen nun regelrecht vor sich herzutreiben scheint. Ihr immer näher. Große Schritte mit seinen schmalen langen Beinen macht er auf sie zu, noch zehn Meter. Sieht sie da nicht schon seinen Blick zu ihr? Eine Aufmerksamkeit, ein Lächeln gar. Noch drei Meter, er ist schlank und schmal, gibt es da überhaupt einen Unterschied? Schwarz angezogen, trägt blonde Wuschelhaare unter der schwarzen Strickmütze und einen Dreitagebart. Schuhgröße sechsundvierzig mindestens, Hände in den Taschen. Jetzt hört sie erstmals seine Stimme, angenehm dunkel und freundlich: „Moin.“
„Moin“, sagt sie, und ihre Augen bleiben für einen langen Moment verbunden. Ganz schön windig heute, wird sie morgen noch dranhängen, denn auch morgen wird es starken Wind von Nordost haben, und auch er wird wieder da sein, ihr blonder Wuschel-Insel-Bleistiftmann.
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RAU
Drei Wochen hat sie sich für die Insel genommen, um gute Luft zu atmen, besser zu schlafen, viel zu lesen und zu gehen, für bessere Nerven und um zu vergessen. Auch am dritten Tag, als es sie gleich morgens nach dem Tee wieder an den Strand zieht, sieht sie ihn weit vorne gehen. Groß und schmal wie ein schwarzer Bleistift kämpft er gegen den Wind genau wie sie in Rot.
Viele sind so früh am Morgen nicht unterwegs. Doch wie an den Vortagen dreht er vorne an den ersten Strandkörben um, als sei seine Zeit begrenzt oder warte jemand auf ihn. Vielleicht ist er aber auch von hier und muss in die Arbeit. Wenn sie gleich aufeinander zulaufen werden, wird sie ihm wie schon gestern und vorgestern ins Gesicht sehen, in dieses schmale, fast noch faltenfreie, irgendwie jugendliche. Vielleicht ein paar Jahre jünger als sie, vielleicht auch nicht. Er sah sie beide Morgen zuerst an und nickte dabei freundlich mit dem schmalen Kopf. Dass ihr das wichtig ist, betrübt sie fast ein wenig. Mehr Mut sollte schon sein, gefreut hat sie es auf jeden Fall.
Noch zwanzig Meter vielleicht. Nein, sicherlich auch aus der Stadt, irgendwas treibt auch ihn um, irgendwas muss er loswerden. Sie stoppt ihre Gedanken und setzt ihre Füße in dem festeren Sand vorne am Wasserrand. Die Brille schützt vor dem beißenden Wind, der den Schmalen nun regelrecht vor sich herzutreiben scheint. Ihr immer näher. Große Schritte mit seinen schmalen langen Beinen macht er auf sie zu, noch zehn Meter. Sieht sie da nicht schon seinen Blick zu ihr? Eine Aufmerksamkeit, ein Lächeln gar. Noch drei Meter, er ist schlank und schmal, gibt es da überhaupt einen Unterschied? Schwarz angezogen, trägt blonde Wuschelhaare unter der schwarzen Strickmütze und einen Dreitagebart. Schuhgröße sechsundvierzig mindestens, Hände in den Taschen. Jetzt hört sie erstmals seine Stimme, angenehm dunkel und freundlich: „Moin.“
„Moin“, sagt sie, und ihre Augen bleiben für einen langen Moment verbunden. Ganz schön windig heute, wird sie morgen noch dranhängen, denn auch morgen wird es starken Wind von Nordost haben, und auch er wird wieder da sein, ihr blonder Wuschel-Insel-Bleistiftmann.