Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Lügen
RAU
Darf man nicht. Tut man nicht. Wir lügen nicht. So hieß es früher bei ihm zuhause immer. Mutter ist da streng gewesen, Vater noch strenger, und seine Schwester hat sich natürlich darangehalten, und er? Als ganz kleiner Junge ist Hannes ehrlich gewesen, meistens jedenfalls, aber nur solange, bis er gemerkt hat, dass er damit eigentlich ziemlich schlecht gefahren ist.
Wenn er seinem Freund Thomas gesagt hat, dass er am Wochenende am Nachmittag nicht mit ihm ins Kino oder ins Freibad gehen kann, hat der immer nur mit dem Kopf geschüttelt.
"Und warum nicht?“, hat er dann gefragt, „hast du kein Geld? Ich kann dir doch welches leihen?“ Thomas hat Woche für Woche doppelt soviel Taschengeld bekommen wie er, Arztsohn ohne Geschwister eben.
„Nein, deshalb nicht“, hat Hannes geantwortet und auch mit dem Kopf geschüttelt.
„Warum dann nicht?“
„Weil wir Besuch kriegen“, hat Hannes dann ziemlich cool geantwortet oder die andere Variante benutzt. „Weil wir eingeladen sind.“ Eins von beiden jedenfalls.
„Schon wieder?“
Thomas muss gedacht haben, dass bei seinem Freund zuhause ständig irgendwelche Leute eingeladen und bewirtet werden, große Familie eben im Gegensatz zu ihm.
„Hat wieder jemand aus deiner Sippe Geburtstag?“
„Ja, Tante Lisa wird vierzig.“
„Ok, dann eben nicht. Pech für dich.“
Während er von dannen gezogen ist mit der herrlichen Aussicht auf einen schönen Film- oder Freibadnachmittag, vielleicht sogar mit Eis und Limo, ist Hannes in die andere Richtung nach Hause getrottet. Um nichts in der Welt, um gar nichts auf der Welt hätte er sich getraut, seinem Freund zu erzählen, dass er wieder zum Hausarrest verdonnert worden ist. Weil der Aufsatz oder das Diktat in Deutsch eine Fünf gebracht hat, weil Schuhe und Hose vom letzten Fußballkick kaputt gegangen sind oder die große Salatschüssel vom guten Sonntagsgeschirr durch seine Schusseligkeit in lauter Scherben auf dem Perser gelandet ist. Schlechte Noten, kaputte Sachen, ungehöriges Benehmen, vorlautes Geplapper, alles hat zu Strafen geführt, die Vater ausgesprochen, Mutter beaufsichtigt, Schwester Steffi hämisch kommentiert haben, und Hannes doppelt hat ausbaden müssen. An vielen Samstag-oder Sonntagnachmittagen musste er zuhause hocken und irgendetwas, in den Augen seiner Familie Sinnvolles tun, und sich vorher auch noch etwas für seinem Freund ausdenken.
Alles das hat Hannes anstands- und klaglos über sich ergehen lassen und nie, wirklich niemals jemanden erzählt. Nicht Thomas oder sonst jemandem aus der Klasse und erst recht niemandem aus seiner großen Familie. Zum Glück ist ihm sehr bald die Sache mit seiner wirklich nicht kleinen Familie als Ausrede eingefallen, und glücklicherweise liegt ihr Haus auch ganz am Ende der Siedlung, sodass Thomas oder jemand anderer von seinen Freunden niemals hat mitbekommen können, dass nur sehr selten Besuch gekommen ist. Doch auf diese Weise ist die große, blöde Verwandtschaft doch endlich mal für etwas gut, hat er sich im Stillen gedacht.
Und so hat er sehr schnell aus der Not, aus Demütigung, Ärger und Wut über die Strafen zuhause und darüber, dass er nicht mit ins Kino oder Freibad hat gehen können, eine Tugend gemacht. Hat seine Lügen erfunden. Und das schon, bevor er elf oder zwölf Jahre alt gewesen ist. Manche würden sie Notlügen nennen, und aus der Not geboren sind sie ja auch gewesen. Aber das hat er schon damals nicht in Ordnung gefunden. Lügen sind Lügen, das schon. Aber immerhin hat er sie sich selber ausgedacht, immerhin sind sie auf seinem Mist gewachsen, seiner Wachheit und Klugheit geschuldet, und darauf ist er natürlich auch stolz gewesen. Ist ja schließlich keine Kleinigkeit, sich spontan was Gutes und Überzeugendes auszudenken.
Als er dann älter geworden ist, so mit dreizehn, vierzehn begonnen hat mit der Clique abzuhängen, da hat er diese Fähigkeit natürlich zu schätzen gelernt, ist dankbar und auch stolz gewesen, sie ziemlich oft und sehr gekonnt benutzt zu haben. Doch davon beim nächsten Mal, jetzt ist Hannes müde und muss sich eine Runde hinlegen. Das können sie ihm jetzt glauben oder nicht, ganz wie sie wollen.
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Lügen
RAU
Darf man nicht. Tut man nicht. Wir lügen nicht. So hieß es früher bei ihm zuhause immer. Mutter ist da streng gewesen, Vater noch strenger, und seine Schwester hat sich natürlich darangehalten, und er? Als ganz kleiner Junge ist Hannes ehrlich gewesen, meistens jedenfalls, aber nur solange, bis er gemerkt hat, dass er damit eigentlich ziemlich schlecht gefahren ist.
Wenn er seinem Freund Thomas gesagt hat, dass er am Wochenende am Nachmittag nicht mit ihm ins Kino oder ins Freibad gehen kann, hat der immer nur mit dem Kopf geschüttelt.
"Und warum nicht?“, hat er dann gefragt, „hast du kein Geld? Ich kann dir doch welches leihen?“ Thomas hat Woche für Woche doppelt soviel Taschengeld bekommen wie er, Arztsohn ohne Geschwister eben.
„Nein, deshalb nicht“, hat Hannes geantwortet und auch mit dem Kopf geschüttelt.
„Warum dann nicht?“
„Weil wir Besuch kriegen“, hat Hannes dann ziemlich cool geantwortet oder die andere Variante benutzt. „Weil wir eingeladen sind.“ Eins von beiden jedenfalls.
„Schon wieder?“
Thomas muss gedacht haben, dass bei seinem Freund zuhause ständig irgendwelche Leute eingeladen und bewirtet werden, große Familie eben im Gegensatz zu ihm.
„Hat wieder jemand aus deiner Sippe Geburtstag?“
„Ja, Tante Lisa wird vierzig.“
„Ok, dann eben nicht. Pech für dich.“
Während er von dannen gezogen ist mit der herrlichen Aussicht auf einen schönen Film- oder Freibadnachmittag, vielleicht sogar mit Eis und Limo, ist Hannes in die andere Richtung nach Hause getrottet. Um nichts in der Welt, um gar nichts auf der Welt hätte er sich getraut, seinem Freund zu erzählen, dass er wieder zum Hausarrest verdonnert worden ist. Weil der Aufsatz oder das Diktat in Deutsch eine Fünf gebracht hat, weil Schuhe und Hose vom letzten Fußballkick kaputt gegangen sind oder die große Salatschüssel vom guten Sonntagsgeschirr durch seine Schusseligkeit in lauter Scherben auf dem Perser gelandet ist. Schlechte Noten, kaputte Sachen, ungehöriges Benehmen, vorlautes Geplapper, alles hat zu Strafen geführt, die Vater ausgesprochen, Mutter beaufsichtigt, Schwester Steffi hämisch kommentiert haben, und Hannes doppelt hat ausbaden müssen. An vielen Samstag-oder Sonntagnachmittagen musste er zuhause hocken und irgendetwas, in den Augen seiner Familie Sinnvolles tun, und sich vorher auch noch etwas für seinem Freund ausdenken.
Alles das hat Hannes anstands- und klaglos über sich ergehen lassen und nie, wirklich niemals jemanden erzählt. Nicht Thomas oder sonst jemandem aus der Klasse und erst recht niemandem aus seiner großen Familie. Zum Glück ist ihm sehr bald die Sache mit seiner wirklich nicht kleinen Familie als Ausrede eingefallen, und glücklicherweise liegt ihr Haus auch ganz am Ende der Siedlung, sodass Thomas oder jemand anderer von seinen Freunden niemals hat mitbekommen können, dass nur sehr selten Besuch gekommen ist. Doch auf diese Weise ist die große, blöde Verwandtschaft doch endlich mal für etwas gut, hat er sich im Stillen gedacht.
Und so hat er sehr schnell aus der Not, aus Demütigung, Ärger und Wut über die Strafen zuhause und darüber, dass er nicht mit ins Kino oder Freibad hat gehen können, eine Tugend gemacht. Hat seine Lügen erfunden. Und das schon, bevor er elf oder zwölf Jahre alt gewesen ist. Manche würden sie Notlügen nennen, und aus der Not geboren sind sie ja auch gewesen. Aber das hat er schon damals nicht in Ordnung gefunden. Lügen sind Lügen, das schon. Aber immerhin hat er sie sich selber ausgedacht, immerhin sind sie auf seinem Mist gewachsen, seiner Wachheit und Klugheit geschuldet, und darauf ist er natürlich auch stolz gewesen. Ist ja schließlich keine Kleinigkeit, sich spontan was Gutes und Überzeugendes auszudenken.
Als er dann älter geworden ist, so mit dreizehn, vierzehn begonnen hat mit der Clique abzuhängen, da hat er diese Fähigkeit natürlich zu schätzen gelernt, ist dankbar und auch stolz gewesen, sie ziemlich oft und sehr gekonnt benutzt zu haben. Doch davon beim nächsten Mal, jetzt ist Hannes müde und muss sich eine Runde hinlegen. Das können sie ihm jetzt glauben oder nicht, ganz wie sie wollen.