Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Lügen
WIE
1
„Man darf nicht lügen!“, höre ich ein kleines Kind auf dem Spielplatz schreien. „Du hast mir versprochen, heute darf ich solange spielen wie ich will, du bist eine Lügnerin!“, schreit sie ihre Mutter an, die am Rand des Sandkastens steht und im Tragetuch das weinende Geschwisterchen hält. Sie sagt nichts, hält nur die ausgestreckte Hand ihrer Tochter entgegen, doch diese schmeißt daraufhin mit Sand nach ihrer Mutter. Danach läuft sie ohne sich umzuschauen in das weite Gelände des städtischen Spielplatzes.
Ich sehe in die Gesichter der anderen Mütter auf den Bänken am Spielplatzrand. Viele von ihnen schütteln den Kopf. Ich frage mich, was sie damit sagen wollen? Wissen sie, was in so einer Situation richtig oder falsch wäre?
2
„Sag es endlich, hast du mit ihr gevögelt oder nicht?“, höre ich eine junge Frauenstimme hinter mir. Ich wage mich nicht umzudrehen, mittags beim Italiener, auf meine Pasta wartend. Schon länger geht das aufgeregte Gespräch des Paares am Tisch hinter mir. Erst wollte ich gar nicht hinhören, doch nach der gerade gestellten Frage fällt es mir schwer wegzuhören.
Zu meiner Überraschung höre ich plötzlich nichts mehr, kein „Hör' mal Liebstes ...“, kein „Was willst du jetzt von mir hören ...“, kein „Es ist nicht so wie du denkst …“, und auch kein „Lass es mich dir erklären ...“.
Es ist still, und ich frage mich, ob einer der beiden womöglich gegangen ist, ohne dass ich es mitgekommen habe. Kurzentschlossen drehe ich mich um. Nein, sie sitzen noch da. Eng umschlungen, innig knutschend, auf der Eckbank beim Italiener.
3
Mein Opa ist seit zwei Jahren in einer guten Pflegeeinrichtung. Nach dem Tod meiner Oma ist er glücklicherweise gut untergekommen ist. Mit seiner Demenz war ein Leben allein nicht mehr zu verantworten. Ab und zu gehe ich ihn besuchen, und wir gehen spazieren. Auf einer Bank im Park frage ich ihn nach seinem Befinden:
„Die Pfleger beklauen einen nach Strich und Faden. Ich muss höllisch aufpassen, aber ich habe gute Verstecke. Da kommen die nie drauf“, erzählt er mir mit verschmitztem Gesichtsausdruck.
„Und sonst“, frage ich, „sind sie nett zu dir?“
„Die Tanja ist die netteste, die ist nicht so wie die anderen. Hast du ihre Brüstchen gesehen? Nicht schlecht oder?“, lacht er und klatscht sich selber auf die Oberschenkel.
„Opa“, sage ich streng …
„Na und, man wird doch noch mal was erzählen dürfen.“
4
„Der Ausschuss fragt sie zum letzten Mal, haben sie von den Transaktionen der Gelder mit den Partnern im Ausland gewusst?
Gibt es eigentlich einen Begriff dafür, dass man nichts sagen muss und einzig und allein seinen Verteidiger anschauen kann, der einem schon vorher dazu geraten hat? Sicherlich, es ist ein Gewinn, wenn weder Daumenschrauben, Streckbrett oder Brenneisen zum Erzwingen einer Aussage eingesetzt werden. Aber ist dieses „ich habe nichts gewusst“, wie es Vorstandsvorsitzende, ehemalige Präsidenten und Kanzler, Spitzenmanager und Vereinsdirektoren pflegen, richtig?
Am Esstisch oder bei der Vorladung ins Zimmer des Schuldirektors ist es mir früher anders ergangen: „Zum letzten mal, zum allerletzten Mal, raus mit der Wahrheit, hast du ….?“
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Lügen
WIE
1
„Man darf nicht lügen!“, höre ich ein kleines Kind auf dem Spielplatz schreien. „Du hast mir versprochen, heute darf ich solange spielen wie ich will, du bist eine Lügnerin!“, schreit sie ihre Mutter an, die am Rand des Sandkastens steht und im Tragetuch das weinende Geschwisterchen hält. Sie sagt nichts, hält nur die ausgestreckte Hand ihrer Tochter entgegen, doch diese schmeißt daraufhin mit Sand nach ihrer Mutter. Danach läuft sie ohne sich umzuschauen in das weite Gelände des städtischen Spielplatzes.
Ich sehe in die Gesichter der anderen Mütter auf den Bänken am Spielplatzrand. Viele von ihnen schütteln den Kopf. Ich frage mich, was sie damit sagen wollen? Wissen sie, was in so einer Situation richtig oder falsch wäre?
2
„Sag es endlich, hast du mit ihr gevögelt oder nicht?“, höre ich eine junge Frauenstimme hinter mir. Ich wage mich nicht umzudrehen, mittags beim Italiener, auf meine Pasta wartend. Schon länger geht das aufgeregte Gespräch des Paares am Tisch hinter mir. Erst wollte ich gar nicht hinhören, doch nach der gerade gestellten Frage fällt es mir schwer wegzuhören.
Zu meiner Überraschung höre ich plötzlich nichts mehr, kein „Hör' mal Liebstes ...“, kein „Was willst du jetzt von mir hören ...“, kein „Es ist nicht so wie du denkst …“, und auch kein „Lass es mich dir erklären ...“.
Es ist still, und ich frage mich, ob einer der beiden womöglich gegangen ist, ohne dass ich es mitgekommen habe. Kurzentschlossen drehe ich mich um. Nein, sie sitzen noch da. Eng umschlungen, innig knutschend, auf der Eckbank beim Italiener.
3
Mein Opa ist seit zwei Jahren in einer guten Pflegeeinrichtung. Nach dem Tod meiner Oma ist er glücklicherweise gut untergekommen ist. Mit seiner Demenz war ein Leben allein nicht mehr zu verantworten. Ab und zu gehe ich ihn besuchen, und wir gehen spazieren. Auf einer Bank im Park frage ich ihn nach seinem Befinden:
„Die Pfleger beklauen einen nach Strich und Faden. Ich muss höllisch aufpassen, aber ich habe gute Verstecke. Da kommen die nie drauf“, erzählt er mir mit verschmitztem Gesichtsausdruck.
„Und sonst“, frage ich, „sind sie nett zu dir?“
„Die Tanja ist die netteste, die ist nicht so wie die anderen. Hast du ihre Brüstchen gesehen? Nicht schlecht oder?“, lacht er und klatscht sich selber auf die Oberschenkel.
„Opa“, sage ich streng …
„Na und, man wird doch noch mal was erzählen dürfen.“
4
„Der Ausschuss fragt sie zum letzten Mal, haben sie von den Transaktionen der Gelder mit den Partnern im Ausland gewusst?
Gibt es eigentlich einen Begriff dafür, dass man nichts sagen muss und einzig und allein seinen Verteidiger anschauen kann, der einem schon vorher dazu geraten hat? Sicherlich, es ist ein Gewinn, wenn weder Daumenschrauben, Streckbrett oder Brenneisen zum Erzwingen einer Aussage eingesetzt werden. Aber ist dieses „ich habe nichts gewusst“, wie es Vorstandsvorsitzende, ehemalige Präsidenten und Kanzler, Spitzenmanager und Vereinsdirektoren pflegen, richtig?
Am Esstisch oder bei der Vorladung ins Zimmer des Schuldirektors ist es mir früher anders ergangen: „Zum letzten mal, zum allerletzten Mal, raus mit der Wahrheit, hast du ….?“