Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Kleine Risse
RAU
Im Bad fällt es mir auf, ich weiß nicht, wieso ausgerechnet heute, wo ich doch jede Woche meine Wohnung saubermache. Aber heute beginnt es im Bad. Als ich die Handtücher vom Heizkörper nehme, es ist so ein länglich hoher Röhrenheizkörper, an dem ich meine beiden Handtücher aufhänge, sehe ich an der weißen Wand zwischen den Röhren eine Stelle lockerer Farbe. Ich bräuchte nur mit dem Finger zwischen den Röhren an diese Stelle zu drücken, und das Farbstück fiele augenblicklich ab und vielleicht auch noch andere, nebenliegende lockere Bereiche. In letzter Sekunde ziehe ich den Finger wieder zurück, sehe dafür aber auf den Röhren, auf denen normalerweise nicht meine beiden Handtücher liegen, dicke Staubschichten, die ich schnell mit einem Stück Klopapier Reihe für Reihe abstreife.
Und damit beginnt das, was oft beim Saubermachen passiert. Ich weiß nicht genau, wie ich es nennen soll, vielleicht das Sonett der kleinen Fehler oder ist es eher ein Blues? Mein Blick geht vom Heizkörper nach links oben, Spinnweben in der Ecke zur Außenwand und drei, nein fünf dicke Risse in der abgehängten Decke. In den vergangenen Jahren sind es mehr geworden, sehr lange ist es nämlich immer nur ein Riss gewesen, wie viele werden es wohl noch werden oder werden müssen, bis ich einschreite?
Beinahe gnadenlos setzen meine Augen die Reise fort, ich kann nichts dagegen machen, sehe die verstaubte Fußbodenleiste und eine, nein sogar zwei fehlende Schrauben in eben dieser. Dann hinüber zur quer vor dem Fenster stehenden Badewanne, tja, denke ich mir, auch nicht viel besser. Die weiße Fuge zwischen Wanne und Wand habe ich erst letztes Jahr erneuert, was ich im Übrigen alle paar Jahre mache, und schon wieder sehe ich ein paar rötliche und auch schon zwei kleine, schwärzliche Färbungen. Wenn das mal nicht schon wieder Schimmel ist. Ähnliches bei den Fugen zwischen den Fliesen und im oberen Bereich der Fensterleibung, vor zehn Jahren musste der gesamte Putz dort abgeschlagen werden. Die Kalkflecken und Wasserspuren an den Armaturen, auf Spiegel und Badschrank sind dagegen ja fast Kleinigkeiten.
Ich stehe im Bad, und wo ich auch hinsehe, entdecke ich Mängel, die behoben werden wollen. Und ich mache mir absolut keine Illusionen darüber, was das grundsätzlich bedeutet. Meine Wohnung hat dreieinhalb Zimmer und ist neunzig Quadratmeter groß, mein Bad misst vielleicht zehn Quadratmeter. Also kann ich alle Mängel, die ich gerade sehe, mindestens mal neun nehmen, wobei in den anderen Räumen ja noch das Problem mit dem alten, abgetretenen Parktet lauert. Alles zusammen bewohne ich scheinbar eine neunzig Quadratmeter große Problemzone mit allerlei Rissen, Dellen, Löchern, Kratzern, lockeren und knarzenden Brettern, übergroßen Fugen, Schleifspuren, Stock- und Schimmelflecken, Spinnweben, Dreck- und Schmutzecken. Die Türen vertrügen auch einen neuen Anstrich, und dann sind da auch noch meine acht Fenster, die bis jetzt noch nie gestrichen, geschweige denn erneuert worden sind.
Natürlich könnte ich locker bei mir selber weitermachen. Der Computer ist alt und viel zu langsam, die beiden Schreibtische zu voll beladen und verstaubt, viele T-Shirts, Hemden, Pullover und Hosen sind bei Licht besehen auch schon recht abgetragen, einige Schuhe sollten längst neu besohlt werden und einen neuen Absatz bekommen, andere müssten gleich in die Tonne. Wo soll ich jetzt bitteschön aufhören? Und warum fange ich überhaupt mit diesem ziemlich bedrückenden Sonett oder Blues an? Denn einmal angestimmt, scheint das Auge, oder was immer es ist, was da reagiert, nur noch diese Sicht einzunehmen. Den Blick auf die Mängel meiner Wohnung, meiner Person, meines Lebens. Das nenne ich doch einen ziemlich ausgewachsenen Blues oder ist es gar eine traurige Sinfonie, die mich da Woche für Woche immer montags ereilt?
Augenblicklich denke ich, Schluss damit. Ich werde alles erneuern, das Parkett in den Zimmern und im Flur, im Bad am besten gleich alles rausreißen und komplett modernisieren, und werde auch gleich einen neuen Computer und neue Garderobe anschaffen. Schon rattern die dafür nötigen Euros durch meinen Kopf, zehntausend Euro werden da beileibe nicht reichen, wohl noch nicht einmal die doppelte Summe. Mir wird ganz schwindelig vom schnellen Überschlagen, von den hohen Zahlen, vom fälligen Ausräumen und Wegschmeißen, bevor überhaupt irgendein Handwerker mit den Arbeiten beginnen kann.
Also werfe ich den Putzschwamm ins Waschbecken und gehe in die Küche, fülle ein großes Glas mit Wasser und trinke es in einem Zug aus. Ruhigen Kopf bewahren, sage ich mir und denke an meine beiden, bewährten Überlebensstrategien. Ich werde sofort das Saubermachen beenden und die Wohnung verlassen oder Kopfhörer aufsetzen und mit einer anderen Musik den schrecklichen Blues oder die niederschmetternde Sinfonie übertönen. Nein, nicht mit Tango, der hilft leider in diesem Fall überhaupt nicht, sondern ich suche in meiner Playlist ‚Boys don’t cry‘. Allein der Titel hat doch schon was. Ich entscheide mich in letzter Zeit grundsätzlich für die zweite Lösung, denn ich liebe meine auch nur halbwegs saubere und in die Jahre gekommene Wohnung und ich schätze die Musiker von ‚The Cure‘ wirklich sehr.
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Kleine Risse
RAU
Im Bad fällt es mir auf, ich weiß nicht, wieso ausgerechnet heute, wo ich doch jede Woche meine Wohnung saubermache. Aber heute beginnt es im Bad. Als ich die Handtücher vom Heizkörper nehme, es ist so ein länglich hoher Röhrenheizkörper, an dem ich meine beiden Handtücher aufhänge, sehe ich an der weißen Wand zwischen den Röhren eine Stelle lockerer Farbe. Ich bräuchte nur mit dem Finger zwischen den Röhren an diese Stelle zu drücken, und das Farbstück fiele augenblicklich ab und vielleicht auch noch andere, nebenliegende lockere Bereiche. In letzter Sekunde ziehe ich den Finger wieder zurück, sehe dafür aber auf den Röhren, auf denen normalerweise nicht meine beiden Handtücher liegen, dicke Staubschichten, die ich schnell mit einem Stück Klopapier Reihe für Reihe abstreife.
Und damit beginnt das, was oft beim Saubermachen passiert. Ich weiß nicht genau, wie ich es nennen soll, vielleicht das Sonett der kleinen Fehler oder ist es eher ein Blues? Mein Blick geht vom Heizkörper nach links oben, Spinnweben in der Ecke zur Außenwand und drei, nein fünf dicke Risse in der abgehängten Decke. In den vergangenen Jahren sind es mehr geworden, sehr lange ist es nämlich immer nur ein Riss gewesen, wie viele werden es wohl noch werden oder werden müssen, bis ich einschreite?
Beinahe gnadenlos setzen meine Augen die Reise fort, ich kann nichts dagegen machen, sehe die verstaubte Fußbodenleiste und eine, nein sogar zwei fehlende Schrauben in eben dieser. Dann hinüber zur quer vor dem Fenster stehenden Badewanne, tja, denke ich mir, auch nicht viel besser. Die weiße Fuge zwischen Wanne und Wand habe ich erst letztes Jahr erneuert, was ich im Übrigen alle paar Jahre mache, und schon wieder sehe ich ein paar rötliche und auch schon zwei kleine, schwärzliche Färbungen. Wenn das mal nicht schon wieder Schimmel ist. Ähnliches bei den Fugen zwischen den Fliesen und im oberen Bereich der Fensterleibung, vor zehn Jahren musste der gesamte Putz dort abgeschlagen werden. Die Kalkflecken und Wasserspuren an den Armaturen, auf Spiegel und Badschrank sind dagegen ja fast Kleinigkeiten.
Ich stehe im Bad, und wo ich auch hinsehe, entdecke ich Mängel, die behoben werden wollen. Und ich mache mir absolut keine Illusionen darüber, was das grundsätzlich bedeutet. Meine Wohnung hat dreieinhalb Zimmer und ist neunzig Quadratmeter groß, mein Bad misst vielleicht zehn Quadratmeter. Also kann ich alle Mängel, die ich gerade sehe, mindestens mal neun nehmen, wobei in den anderen Räumen ja noch das Problem mit dem alten, abgetretenen Parktet lauert. Alles zusammen bewohne ich scheinbar eine neunzig Quadratmeter große Problemzone mit allerlei Rissen, Dellen, Löchern, Kratzern, lockeren und knarzenden Brettern, übergroßen Fugen, Schleifspuren, Stock- und Schimmelflecken, Spinnweben, Dreck- und Schmutzecken. Die Türen vertrügen auch einen neuen Anstrich, und dann sind da auch noch meine acht Fenster, die bis jetzt noch nie gestrichen, geschweige denn erneuert worden sind.
Natürlich könnte ich locker bei mir selber weitermachen. Der Computer ist alt und viel zu langsam, die beiden Schreibtische zu voll beladen und verstaubt, viele T-Shirts, Hemden, Pullover und Hosen sind bei Licht besehen auch schon recht abgetragen, einige Schuhe sollten längst neu besohlt werden und einen neuen Absatz bekommen, andere müssten gleich in die Tonne. Wo soll ich jetzt bitteschön aufhören? Und warum fange ich überhaupt mit diesem ziemlich bedrückenden Sonett oder Blues an? Denn einmal angestimmt, scheint das Auge, oder was immer es ist, was da reagiert, nur noch diese Sicht einzunehmen. Den Blick auf die Mängel meiner Wohnung, meiner Person, meines Lebens. Das nenne ich doch einen ziemlich ausgewachsenen Blues oder ist es gar eine traurige Sinfonie, die mich da Woche für Woche immer montags ereilt?
Augenblicklich denke ich, Schluss damit. Ich werde alles erneuern, das Parkett in den Zimmern und im Flur, im Bad am besten gleich alles rausreißen und komplett modernisieren, und werde auch gleich einen neuen Computer und neue Garderobe anschaffen. Schon rattern die dafür nötigen Euros durch meinen Kopf, zehntausend Euro werden da beileibe nicht reichen, wohl noch nicht einmal die doppelte Summe. Mir wird ganz schwindelig vom schnellen Überschlagen, von den hohen Zahlen, vom fälligen Ausräumen und Wegschmeißen, bevor überhaupt irgendein Handwerker mit den Arbeiten beginnen kann.
Also werfe ich den Putzschwamm ins Waschbecken und gehe in die Küche, fülle ein großes Glas mit Wasser und trinke es in einem Zug aus. Ruhigen Kopf bewahren, sage ich mir und denke an meine beiden, bewährten Überlebensstrategien. Ich werde sofort das Saubermachen beenden und die Wohnung verlassen oder Kopfhörer aufsetzen und mit einer anderen Musik den schrecklichen Blues oder die niederschmetternde Sinfonie übertönen. Nein, nicht mit Tango, der hilft leider in diesem Fall überhaupt nicht, sondern ich suche in meiner Playlist ‚Boys don’t cry‘. Allein der Titel hat doch schon was. Ich entscheide mich in letzter Zeit grundsätzlich für die zweite Lösung, denn ich liebe meine auch nur halbwegs saubere und in die Jahre gekommene Wohnung und ich schätze die Musiker von ‚The Cure‘ wirklich sehr.