Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Kleine Ablenkungen
RAU
Als Kind schon habe ich es geliebt, nicht aufzupassen. Und nicht wirklich das zu tun, was ich machen sollte. Dabei war mir der übliche Kanon schon klar: brav und fleißig sein, zuhören, lernen, Erwachsenen nicht widersprechen, alles glauben, was sie sagen, und sie gut finden. Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Lehrer und Lehrerinnen wissen, was richtig und wichtig für mich ist. Ich brauche mich nur daran zu halten, und aus mir wird ein guter Mensch werden.
Dabei habe ich nie einen Zweifel gehabt, dass ich bereits ein guter Mensch bin. Ich war selig in und mit mir, wollte viel wissen, aber immer nur das, was mich gerade interessiert hat. Wollte spielen, fangen, hüpfen, mit anderen Kindern zusammen sein und ganz viel ausprobieren. Die Erwachsenen waren meist so ernst. Wann lachten sie schon mal? Bis auf Onkel Klaus und Tante Anna haben die Großen wohl erst dann gelacht, wenn wir Kinder im Bett waren. Wenn sie unter sich gewesen sind, getrunken und geraucht haben. Hoffe ich zumindest mal.
Mich auf das einzulassen, was die Großen von mir verlangt haben, ist mir schwergefallen. Meist habe ich mich gelangweilt, wenn ich in der Schule dem Unterricht folgen sollte. Ich habe es durchaus versucht, aber dann habe ich draußen vor dem Fenster die Vögel im Baum entdeckt und ihren Stimmen gelauscht, das Müllauto die Einfahrt gegenüber reinfahren sehen und die in Orange gekleideten Männer bewundert, wie sie mit den schweren Mülltonnen hantierten, sie hochhievten, leerten und zurückrollten. Als ich wieder zur Tafel gesehen habe, war Lehrer Maurer mit seinen Erklärungen zum Einmaleins oder Frau Dutt mit der Grammatik schon wieder ganz wo anders, und ich habe nichts mehr verstanden. Also habe ich wieder rausgesehen. Oder bin mit meinen Augen an den Sandalen von Nora in der Reihe vor mir hängengeblieben oder habe mir angesehen, wie Torsten neben mir beim Schreiben seinen Stift hält. Alles war wichtig, jede kleinste Kleinigkeit, viel wichtiger als das blöde Einmaleins oder die Grammatik.
Was daran so schlimm sein soll, habe ich nie verstanden.
"Du bist zu leicht abzulenken, Carlotta, bist zu verspielt, nimm die Schule endlich ernst, sonst wird nie was aus dir", haben Vater und Mutter mich geschimpft.
"Ich soll so werden wie ihr, immer ernst und angespannt durch die Tage gehen und erst lachen, wenn alle anderen schon im Bett sind? Mein Leben mit den vielen schönen kleinen Dinge, die ihr Ablenkungen nennt, ist doch so wunderbar."
"Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du groß bist", haben sie gesagt.
Heute bin ich groß, und meine Tage und Wochen sind einigermaßen durchgetaktet wie bei anderen auch. So ist das eben als Erwachsene. Doch immer noch gehen meine Blicke gerne nach links und rechts, oben und unten, nach vorne und hinten. Noch immer sehe ich gerne den Müllmännern bei ihrer Arbeit zur, freue mich über jeden schicken Schuh und über Papiertaschentücher, die der Wind durch die Luft wirbelt, staune über neue Graffitis, Kastanienmännchen auf Straßenschildern, bizarre Schaufensterauslagen, den schönen Gang einer Frau vor mir, die schmalen Hände des Baristas im Cafe und über die bunten Ohrringe des kleinen Mädchens auf der Schaukel. Dafür gehe ich auch gerne einmal ein paar Schritte mehr.
"Was du alles siehst, ist ja toll, wie machst du das Carlotta?", werde ich heute gefragt und manchmal sogar ein wenig bewundert. Früher wurde ich dafür geschimpft, ist es aber nicht immer Dasselbe geblieben?
Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Kleine Ablenkungen
RAU
Als Kind schon habe ich es geliebt, nicht aufzupassen. Und nicht wirklich das zu tun, was ich machen sollte. Dabei war mir der übliche Kanon schon klar: brav und fleißig sein, zuhören, lernen, Erwachsenen nicht widersprechen, alles glauben, was sie sagen, und sie gut finden. Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Lehrer und Lehrerinnen wissen, was richtig und wichtig für mich ist. Ich brauche mich nur daran zu halten, und aus mir wird ein guter Mensch werden.
Dabei habe ich nie einen Zweifel gehabt, dass ich bereits ein guter Mensch bin. Ich war selig in und mit mir, wollte viel wissen, aber immer nur das, was mich gerade interessiert hat. Wollte spielen, fangen, hüpfen, mit anderen Kindern zusammen sein und ganz viel ausprobieren. Die Erwachsenen waren meist so ernst. Wann lachten sie schon mal? Bis auf Onkel Klaus und Tante Anna haben die Großen wohl erst dann gelacht, wenn wir Kinder im Bett waren. Wenn sie unter sich gewesen sind, getrunken und geraucht haben. Hoffe ich zumindest mal.
Mich auf das einzulassen, was die Großen von mir verlangt haben, ist mir schwergefallen. Meist habe ich mich gelangweilt, wenn ich in der Schule dem Unterricht folgen sollte. Ich habe es durchaus versucht, aber dann habe ich draußen vor dem Fenster die Vögel im Baum entdeckt und ihren Stimmen gelauscht, das Müllauto die Einfahrt gegenüber reinfahren sehen und die in Orange gekleideten Männer bewundert, wie sie mit den schweren Mülltonnen hantierten, sie hochhievten, leerten und zurückrollten. Als ich wieder zur Tafel gesehen habe, war Lehrer Maurer mit seinen Erklärungen zum Einmaleins oder Frau Dutt mit der Grammatik schon wieder ganz wo anders, und ich habe nichts mehr verstanden. Also habe ich wieder rausgesehen. Oder bin mit meinen Augen an den Sandalen von Nora in der Reihe vor mir hängengeblieben oder habe mir angesehen, wie Torsten neben mir beim Schreiben seinen Stift hält. Alles war wichtig, jede kleinste Kleinigkeit, viel wichtiger als das blöde Einmaleins oder die Grammatik.
Was daran so schlimm sein soll, habe ich nie verstanden.
"Du bist zu leicht abzulenken, Carlotta, bist zu verspielt, nimm die Schule endlich ernst, sonst wird nie was aus dir", haben Vater und Mutter mich geschimpft.
"Ich soll so werden wie ihr, immer ernst und angespannt durch die Tage gehen und erst lachen, wenn alle anderen schon im Bett sind? Mein Leben mit den vielen schönen kleinen Dinge, die ihr Ablenkungen nennt, ist doch so wunderbar."
"Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du groß bist", haben sie gesagt.
Heute bin ich groß, und meine Tage und Wochen sind einigermaßen durchgetaktet wie bei anderen auch. So ist das eben als Erwachsene. Doch immer noch gehen meine Blicke gerne nach links und rechts, oben und unten, nach vorne und hinten. Noch immer sehe ich gerne den Müllmännern bei ihrer Arbeit zur, freue mich über jeden schicken Schuh und über Papiertaschentücher, die der Wind durch die Luft wirbelt, staune über neue Graffitis, Kastanienmännchen auf Straßenschildern, bizarre Schaufensterauslagen, den schönen Gang einer Frau vor mir, die schmalen Hände des Baristas im Cafe und über die bunten Ohrringe des kleinen Mädchens auf der Schaukel. Dafür gehe ich auch gerne einmal ein paar Schritte mehr.
"Was du alles siehst, ist ja toll, wie machst du das Carlotta?", werde ich heute gefragt und manchmal sogar ein wenig bewundert. Früher wurde ich dafür geschimpft, ist es aber nicht immer Dasselbe geblieben?