Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Karton
RAU
O weh, ich habe es geahnt. Dass er noch da ist. Da unten im Keller bei meinen Eltern. Mutter hat mich schon lange mit der Bitte genervt, doch endlich mal wieder vorbeizukommen, etwas Zeit mitzubringen und ihr beim Ausmisten zu helfen. Ausmisten. Schreckliches Wort. Als wären wir auf dem Bauernhof und hätten Viecher. Mist. Gestank. Unrat. Etwas, was unbedingt fortmuss. Aber für irgendetwas noch gut ist. Wird ja irgendwann guter Dünger und wieder auf den Böden verteilt werden. Damit wieder Neues wächst im nächsten Jahr.
Ich habe mir dann das letzte Wochenende freigeschaufelt und bin in die alte Heimat gefahren. Natürlich mit dem Wagen, für alle Fälle. In drei Stunden bin ich dort gewesen. Vielleicht würde ich sogar etwas brauchen und schätzen von dem alten Kram, man weiß ja nie. Vielleicht würde ich mit dem Wagen auch nur kistenweise alten Schrott zum Müllplatz bringen, einer meiner Lieblingsbeschäftigungen übrigens. Vielleicht würde ich aber auch ganz plötzlich wieder zurückfahren wollen.
Zuerst hat es am Nachmittag frischen Apfelkuchen gegeben, und Vater hat sogar geredet. Gar nicht so wenig, vom Wald und den zu vielen Wildschweinen, die geschossen werden müssen, dass aber die Jäger gar nicht mehr nachkämen. Und von seinem Kollegen hat er erzählt, der ganz plötzlich weißen Nasenkrebs bekommen hat, sofort operiert worden ist und nun aussieht wie ein Monster mit einer halb entfernten Nase beziehungsweise einem auffälligem Nasenverband. Dabei ist mir fast schlecht geworden, und Mutters wunderbarer Apfelkuchen aus dem Mund gefallen. Anschließend ein paar Sekunden betretenes Schweigen. Mutter und ich sind fast erleichtert gewesen, als Vater aufgestanden und zu seinen Bienen hinaus gegangen ist.
Wir beide sind dann in den Keller gegangen, genau genommen sind es drei ineinander gehende Räume, die neben Waschküche und Heizungsraum liegen. Drei Räume voller Sachen, das können Sie sich nicht vorstellen. Alle drei bis oben hin voll bepackt mit alten Regalen, Schränken und Kommoden, Schuhen, Winter – und Sommerzeug, alten Kindersachen von meiner Schwester und mir, Geschirr, Elektrosachen, Werkzeug, Oster–, Advents – und Weihnachtsschmuck und was nicht sonst noch allem.
Mutter wollte unbedingt die Geschirrsachen durchsehen, da gäbe es eine Flüchtlingsfamilie am Anfang der Straße, die was brauchen könnte. Aus ein, zwei, drei Stunden wurden zwei Tage. Und kurz vor Ende habe ich den alten Karton entdeckt. Auf dem Adressaufkleber der Name meines Großvaters, Absender meine Großmutter, die wohl wieder in der Kur gewesen ist.
Damals habe ich ihn hier im Keller gefunden und alles hineingetan, was mich an Tina erinnert hat. Was ich eben noch von ihr hatte, nicht mehr sehen und doch nicht wegschmeißen wollte. Sollte ich jetzt den Karton öffnen? Wirklich öffnen? Alles so ewig lange her. Obwohl ich ab und an immer mal wieder an sie denke, sie sogar neulich erst gegoogelt habe. Tina Weissgerber. Damals wollte sie unbedingt nach New York und groß rauskommen, heute lebt sie in Hamburg und ist immerhin noch als Fotografin gelistet. Jetzt erinnere ich mich auch wieder an eine Kette mit einem großem Stein, an einen Schal, ein Buch von Hesse, einen nicht zu Ende gerauchten Joint. Das hatte ich wohl noch von ihr, als sie mir vollkommen überraschend den Laufpass gegeben hatte, damals war ich sechzehn und sie zwei Jahre älter.
Als ich den Karton schließlich geöffnet habe, sehe ich als erstes ihren BH aus schwarzer Spitze. Wow.
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Karton
RAU
O weh, ich habe es geahnt. Dass er noch da ist. Da unten im Keller bei meinen Eltern. Mutter hat mich schon lange mit der Bitte genervt, doch endlich mal wieder vorbeizukommen, etwas Zeit mitzubringen und ihr beim Ausmisten zu helfen. Ausmisten. Schreckliches Wort. Als wären wir auf dem Bauernhof und hätten Viecher. Mist. Gestank. Unrat. Etwas, was unbedingt fortmuss. Aber für irgendetwas noch gut ist. Wird ja irgendwann guter Dünger und wieder auf den Böden verteilt werden. Damit wieder Neues wächst im nächsten Jahr.
Ich habe mir dann das letzte Wochenende freigeschaufelt und bin in die alte Heimat gefahren. Natürlich mit dem Wagen, für alle Fälle. In drei Stunden bin ich dort gewesen. Vielleicht würde ich sogar etwas brauchen und schätzen von dem alten Kram, man weiß ja nie. Vielleicht würde ich mit dem Wagen auch nur kistenweise alten Schrott zum Müllplatz bringen, einer meiner Lieblingsbeschäftigungen übrigens. Vielleicht würde ich aber auch ganz plötzlich wieder zurückfahren wollen.
Zuerst hat es am Nachmittag frischen Apfelkuchen gegeben, und Vater hat sogar geredet. Gar nicht so wenig, vom Wald und den zu vielen Wildschweinen, die geschossen werden müssen, dass aber die Jäger gar nicht mehr nachkämen. Und von seinem Kollegen hat er erzählt, der ganz plötzlich weißen Nasenkrebs bekommen hat, sofort operiert worden ist und nun aussieht wie ein Monster mit einer halb entfernten Nase beziehungsweise einem auffälligem Nasenverband. Dabei ist mir fast schlecht geworden, und Mutters wunderbarer Apfelkuchen aus dem Mund gefallen. Anschließend ein paar Sekunden betretenes Schweigen. Mutter und ich sind fast erleichtert gewesen, als Vater aufgestanden und zu seinen Bienen hinaus gegangen ist.
Wir beide sind dann in den Keller gegangen, genau genommen sind es drei ineinander gehende Räume, die neben Waschküche und Heizungsraum liegen. Drei Räume voller Sachen, das können Sie sich nicht vorstellen. Alle drei bis oben hin voll bepackt mit alten Regalen, Schränken und Kommoden, Schuhen, Winter – und Sommerzeug, alten Kindersachen von meiner Schwester und mir, Geschirr, Elektrosachen, Werkzeug, Oster–, Advents – und Weihnachtsschmuck und was nicht sonst noch allem.
Mutter wollte unbedingt die Geschirrsachen durchsehen, da gäbe es eine Flüchtlingsfamilie am Anfang der Straße, die was brauchen könnte. Aus ein, zwei, drei Stunden wurden zwei Tage. Und kurz vor Ende habe ich den alten Karton entdeckt. Auf dem Adressaufkleber der Name meines Großvaters, Absender meine Großmutter, die wohl wieder in der Kur gewesen ist.
Damals habe ich ihn hier im Keller gefunden und alles hineingetan, was mich an Tina erinnert hat. Was ich eben noch von ihr hatte, nicht mehr sehen und doch nicht wegschmeißen wollte. Sollte ich jetzt den Karton öffnen? Wirklich öffnen? Alles so ewig lange her. Obwohl ich ab und an immer mal wieder an sie denke, sie sogar neulich erst gegoogelt habe. Tina Weissgerber. Damals wollte sie unbedingt nach New York und groß rauskommen, heute lebt sie in Hamburg und ist immerhin noch als Fotografin gelistet. Jetzt erinnere ich mich auch wieder an eine Kette mit einem großem Stein, an einen Schal, ein Buch von Hesse, einen nicht zu Ende gerauchten Joint. Das hatte ich wohl noch von ihr, als sie mir vollkommen überraschend den Laufpass gegeben hatte, damals war ich sechzehn und sie zwei Jahre älter.
Als ich den Karton schließlich geöffnet habe, sehe ich als erstes ihren BH aus schwarzer Spitze. Wow.