Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Jetzt!
RAU
Allein schon die vier harten Konsonanten und dazu noch das Ausrufezeichen, in Kombination sind beide unerträglich, eine Frechheit.
Jetzt! Sofort. Augenblicklich. Nie ist dabei Zeit, Luft zu holen, mal zu schlucken oder rechts und links zu sehen. Denn dies würde ja die Zeitachse verändern, das Jetzt ins Morgen oder ins Gestern schieben. Das geht auf keinen Fall, denn ihm hängt das Zeitlose an. Yogalehrer:innen reden auch immerzu vom entspannten Atmen im Hier und Jetzt. Versprechen dabei Genuss und Stillstand im Moment, doch erzeugen oft nur ein absurdes Hinterherhecheln.
Genieße das Jetzt beim Sex oder den Sex im Jetzt. Fokussiere dich auf den Augenblick für den tiefsten Genuss, für die schönste Erfahrung, für das Beste, Wichtigste in Dir. Lebensratgeber stehen meterweise in den Buchhandlungen und im Netz und versprechen in dieser Hinsicht alles Mögliche. Bei der immer noch beliebten Selbstoptimierung steht das Wort mit den fünf Buchstaben ganz weit vorne auf der Beliebtheitsskala genauso wie im Job. Immer ist es die Lieblingsantwort ihres früheren Chefs gewesen auf die Frage, wann das Paper, die Präsentation, das Projekt fertig sein soll. Auf ihr 'Wann' antwortete er stets mit seinem ‚am liebsten jetzt gleich', und in seiner Stimme hat sie das Ausrufezeichen immer gleich mitgehört. Hopp Hopp, avanti avanti, wir sind doch schließlich nicht von gestern, pflegte er noch gerne hinterher zu schieben.
Aber nicht nur Schnelligkeit ist gefragt. Auch sonst tobt da draußen gerne dieser Glaube, dass es immer und vor allem darum geht, ganz bewusst den ultimativen Moment einzufangen, zu erleben und zu genießen. Nicht das Gestern interessiert und nicht das Morgen, nur die Gegenwart, und davon nur dieser eine Augenblick. Alles auf den Punkt bringen, hopp hopp, das ist die Moderne.
Warum eigentlich, denkt sie sich und geht hinüber ins Wohnzimmer. Ihr Sekretär hat locker schon über eine Billion Male ein Jetzt erlebt und steht immer noch in seiner schlichten Schönheit überzeugend da. Die Lampe ihrer Mutter hat noch mehr auf dem Buckel, und erst das Ölgemälde ihrer Großeltern neben der Tür. Wenn die vom Jetzt-Irrsinn unserer Tage wüssten, würden die beiden Frauen nur kopfschüttelnd ihre Tasse samt Schwarztee, Kluntjes und einem Schuss Sahne greifen, sich auf ihren Sesseln zurücklehnen und das heiße, süße und zugleich starke Getränk extra langsam genießen.
Wurden ihre Papers, Präsentationen und Projekte besser, nur weil ihr Chef sie immer am liebsten gleich jetzt haben wollte? Über ein Jahr liegt er nun schon auf dem Friedhof unter einer stattlichen Kastanie, die sicherlich bald siebzig Jahre auf dem Buckel hat und über das moderne Jetzt nur ihre dicken Äste schütteln würde. Und sie lebt immer noch, läßt sich Zeit, hetzt sich nicht, überlegt sich so Einiges, sogar noch etwas ganz anderes zu machen, und ruft diesem schrecklich modischen Jetzt! samt seinem Ausrufezeichen ganz ruhig entgegen: „Du kannst mich mal.“
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Jetzt!
RAU
Allein schon die vier harten Konsonanten und dazu noch das Ausrufezeichen, in Kombination sind beide unerträglich, eine Frechheit.
Jetzt! Sofort. Augenblicklich. Nie ist dabei Zeit, Luft zu holen, mal zu schlucken oder rechts und links zu sehen. Denn dies würde ja die Zeitachse verändern, das Jetzt ins Morgen oder ins Gestern schieben. Das geht auf keinen Fall, denn ihm hängt das Zeitlose an. Yogalehrer:innen reden auch immerzu vom entspannten Atmen im Hier und Jetzt. Versprechen dabei Genuss und Stillstand im Moment, doch erzeugen oft nur ein absurdes Hinterherhecheln.
Genieße das Jetzt beim Sex oder den Sex im Jetzt. Fokussiere dich auf den Augenblick für den tiefsten Genuss, für die schönste Erfahrung, für das Beste, Wichtigste in Dir. Lebensratgeber stehen meterweise in den Buchhandlungen und im Netz und versprechen in dieser Hinsicht alles Mögliche. Bei der immer noch beliebten Selbstoptimierung steht das Wort mit den fünf Buchstaben ganz weit vorne auf der Beliebtheitsskala genauso wie im Job. Immer ist es die Lieblingsantwort ihres früheren Chefs gewesen auf die Frage, wann das Paper, die Präsentation, das Projekt fertig sein soll. Auf ihr 'Wann' antwortete er stets mit seinem ‚am liebsten jetzt gleich', und in seiner Stimme hat sie das Ausrufezeichen immer gleich mitgehört. Hopp Hopp, avanti avanti, wir sind doch schließlich nicht von gestern, pflegte er noch gerne hinterher zu schieben.
Aber nicht nur Schnelligkeit ist gefragt. Auch sonst tobt da draußen gerne dieser Glaube, dass es immer und vor allem darum geht, ganz bewusst den ultimativen Moment einzufangen, zu erleben und zu genießen. Nicht das Gestern interessiert und nicht das Morgen, nur die Gegenwart, und davon nur dieser eine Augenblick. Alles auf den Punkt bringen, hopp hopp, das ist die Moderne.
Warum eigentlich, denkt sie sich und geht hinüber ins Wohnzimmer. Ihr Sekretär hat locker schon über eine Billion Male ein Jetzt erlebt und steht immer noch in seiner schlichten Schönheit überzeugend da. Die Lampe ihrer Mutter hat noch mehr auf dem Buckel, und erst das Ölgemälde ihrer Großeltern neben der Tür. Wenn die vom Jetzt-Irrsinn unserer Tage wüssten, würden die beiden Frauen nur kopfschüttelnd ihre Tasse samt Schwarztee, Kluntjes und einem Schuss Sahne greifen, sich auf ihren Sesseln zurücklehnen und das heiße, süße und zugleich starke Getränk extra langsam genießen.
Wurden ihre Papers, Präsentationen und Projekte besser, nur weil ihr Chef sie immer am liebsten gleich jetzt haben wollte? Über ein Jahr liegt er nun schon auf dem Friedhof unter einer stattlichen Kastanie, die sicherlich bald siebzig Jahre auf dem Buckel hat und über das moderne Jetzt nur ihre dicken Äste schütteln würde. Und sie lebt immer noch, läßt sich Zeit, hetzt sich nicht, überlegt sich so Einiges, sogar noch etwas ganz anderes zu machen, und ruft diesem schrecklich modischen Jetzt! samt seinem Ausrufezeichen ganz ruhig entgegen: „Du kannst mich mal.“