Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Ich bin müde
RAU
Wenn Vater das früher gesagt hat, ist klar gewesen, dass für die nächste Stunde nichts mehr geht, alle nur noch auf leisen Sohlen durchs Haus huschen dürfen, Radio und Gespräche auf den kleinsten Geräuschpegel runtergefahren werden müssen und absolute Ruhe angesagt ist.
Jedes Wochenende hat Vater nach dem Mittagessen diese drei Wörter gesagt, doch statt sich gleich ins Schlafzimmer zu verabschieden, hat er bei geöffneter Tür im Wohnzimmer die Vorhänge vor allen drei Fenstern zugezogen, seine Pantoffeln unter den niedrigen Glastisch gestellt, seine Brille auf den Tisch gelegt, sich auf das hellbraune Sofa gelegt, die dunkelbraune Wolldecke übergeworfen und die Augen geschlossen. Pantoffeln und abgelegte Brille sind seither für mich das Bild dafür, dass nichts mehr geht und nichts mehr sein darf.
Mutter hat sich zeitgleich in die Küche zurückgezogen und dort den Abwasch gemacht, die Essensreste in Tupperschüssel verstaut und sie im Kühlschrank zu kleinen Bergen aufgeschichtet. Meine Schwester Steffi hat ihr entweder geholfen oder demonstrativ fleißig ihre Hausaufgaben im Esszimmer am großen Tisch gemacht mit Blick durch die geöffnete Tür zum schlafenden, schnarchenden Vater.
Und ich? Gute Frage. Ich bin eigentlich jedes Wochenende nach dem Mittagessen irgendwie sauer gewesen, sauer und wütend darüber, dass auf einmal wieder diese bleierne Stille im Haus lag, und irgendwie kein Leben mehr gewesen ist von jetzt auf gleich. Keine Stimmen mehr, keine Schritte, und das Telefon ist selbstverständlich auch ausgeschaltet gewesen. Denn seine Hoheit, mein Vater, ist müde gewesen und musste sich hinlegen. Musste ruhen, musste sich ausruhen und neue Kräfte sammeln. Sein Leben ist anstrengend genug. Als Förster ist er den ganzen Tag auf den Beinen und am Wochenende ist viel im und ums Haus zu machen, Regenrinnen säubern, Fenster streichen, Rasen mähen, Laubrechen, Hecken schneiden, so viel ist zu tun. Der arme Vater.
Ich bin müde. Über Jahre hat das nichts anderes geheißen als Ruhe und Stillstand, flankiert von der tickenden Standuhr im Esszimmer. Tick, tick, tick. Wie Steffi auch Hausaufgaben zu machen, womöglich noch neben ihr am großen Tisch, habe ich überhaupt keine Lust gehabt. Raus habe ich auch nicht gedurft, weil es dann, wenn Vater nach einer Stunde wieder wach geworden ist, ja noch Kuchen gegeben hat, Kaffee für die Großen und Kakao für uns Kinder. Dabei hätte ich wirklich gerne nach dem Essen noch viel länger zusammen am Tisch gesessen und etwas gespielt. Wie bei meinem Freund Thomas zum Beispiel, wo nach dem Mittagessen die Familie immer noch ein, zwei Runden Rommé gespielt hat. Oder wie bei Markus, wo Vater und Sohn nach dem Essen eine Runde Fußball im Garten gekickt haben.
Aber nein, mein Vater ist ja müde gewesen. Sein ‚Ich bin müde‘ ist so unerbittlich gewesen und hat doch nur Eines geheißen. Ich bin am wichtigsten, und ihr habt euch daran zu halten. Dass Mutter das mitgemacht hat, ach was sage ich, immer noch mitmacht und aushält, gleicht einem Wunder. Oder ist auch nur Teil einer langjährigen Ehe, wie ich sie nie führen will und werde.
Wenn ich heute diesen Satz höre, ich bin müde, stellen sich mir sämtliche Nackenhaare auf. Hier hat jemand gerade keine Lust mehr auf mich und auch nicht auf die Welt, heißt das seitdem in meiner Sprache. Und darauf habe ich nun wirklich überhaupt keine Lust.
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Ich bin müde
RAU
Wenn Vater das früher gesagt hat, ist klar gewesen, dass für die nächste Stunde nichts mehr geht, alle nur noch auf leisen Sohlen durchs Haus huschen dürfen, Radio und Gespräche auf den kleinsten Geräuschpegel runtergefahren werden müssen und absolute Ruhe angesagt ist.
Jedes Wochenende hat Vater nach dem Mittagessen diese drei Wörter gesagt, doch statt sich gleich ins Schlafzimmer zu verabschieden, hat er bei geöffneter Tür im Wohnzimmer die Vorhänge vor allen drei Fenstern zugezogen, seine Pantoffeln unter den niedrigen Glastisch gestellt, seine Brille auf den Tisch gelegt, sich auf das hellbraune Sofa gelegt, die dunkelbraune Wolldecke übergeworfen und die Augen geschlossen. Pantoffeln und abgelegte Brille sind seither für mich das Bild dafür, dass nichts mehr geht und nichts mehr sein darf.
Mutter hat sich zeitgleich in die Küche zurückgezogen und dort den Abwasch gemacht, die Essensreste in Tupperschüssel verstaut und sie im Kühlschrank zu kleinen Bergen aufgeschichtet. Meine Schwester Steffi hat ihr entweder geholfen oder demonstrativ fleißig ihre Hausaufgaben im Esszimmer am großen Tisch gemacht mit Blick durch die geöffnete Tür zum schlafenden, schnarchenden Vater.
Und ich? Gute Frage. Ich bin eigentlich jedes Wochenende nach dem Mittagessen irgendwie sauer gewesen, sauer und wütend darüber, dass auf einmal wieder diese bleierne Stille im Haus lag, und irgendwie kein Leben mehr gewesen ist von jetzt auf gleich. Keine Stimmen mehr, keine Schritte, und das Telefon ist selbstverständlich auch ausgeschaltet gewesen. Denn seine Hoheit, mein Vater, ist müde gewesen und musste sich hinlegen. Musste ruhen, musste sich ausruhen und neue Kräfte sammeln. Sein Leben ist anstrengend genug. Als Förster ist er den ganzen Tag auf den Beinen und am Wochenende ist viel im und ums Haus zu machen, Regenrinnen säubern, Fenster streichen, Rasen mähen, Laubrechen, Hecken schneiden, so viel ist zu tun. Der arme Vater.
Ich bin müde. Über Jahre hat das nichts anderes geheißen als Ruhe und Stillstand, flankiert von der tickenden Standuhr im Esszimmer. Tick, tick, tick. Wie Steffi auch Hausaufgaben zu machen, womöglich noch neben ihr am großen Tisch, habe ich überhaupt keine Lust gehabt. Raus habe ich auch nicht gedurft, weil es dann, wenn Vater nach einer Stunde wieder wach geworden ist, ja noch Kuchen gegeben hat, Kaffee für die Großen und Kakao für uns Kinder. Dabei hätte ich wirklich gerne nach dem Essen noch viel länger zusammen am Tisch gesessen und etwas gespielt. Wie bei meinem Freund Thomas zum Beispiel, wo nach dem Mittagessen die Familie immer noch ein, zwei Runden Rommé gespielt hat. Oder wie bei Markus, wo Vater und Sohn nach dem Essen eine Runde Fußball im Garten gekickt haben.
Aber nein, mein Vater ist ja müde gewesen. Sein ‚Ich bin müde‘ ist so unerbittlich gewesen und hat doch nur Eines geheißen. Ich bin am wichtigsten, und ihr habt euch daran zu halten. Dass Mutter das mitgemacht hat, ach was sage ich, immer noch mitmacht und aushält, gleicht einem Wunder. Oder ist auch nur Teil einer langjährigen Ehe, wie ich sie nie führen will und werde.
Wenn ich heute diesen Satz höre, ich bin müde, stellen sich mir sämtliche Nackenhaare auf. Hier hat jemand gerade keine Lust mehr auf mich und auch nicht auf die Welt, heißt das seitdem in meiner Sprache. Und darauf habe ich nun wirklich überhaupt keine Lust.