Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Hinterhöfe
RAU
Der Himmel nicht mehr als ein kleines Rechteck, graue Fassaden, abgeblätterter Putz, viele Fenster und keine Balkone. Auch keine Bäume, Pflanzen oder Blumen und wenig Licht. Einfache Leute, vielleicht sogar arme, die hier leben, Horden von Kindern, die hier spielen müssen, viele davon nicht gesund wegen Licht- und Vitaminmangel. Rachitis, diesen Ausdruck habe ich mir damals gemerkt, und auch die alten Fotografien dazu in Schwarzweiß. Erster Hof, zweiter, dritter, vierter und manchmal noch einer, Roter Wedding und Zilles Zeichnungen dazu. So stand es in meinem Geschichtsbuch, so habe ich es abgespeichert. Auch deshalb wollte ich nie in diese Stadt, natürlich kam auch Anderes dazu. Die Mauer, Grenzkontrollen, sich eingesperrt fühlen, schlechte Luft und kalte Winter.
Jetzt wohne ich doch hier mit Blick in einen Hinterhof. Ein Vorderhaus, zwei Seitenflügel und ein Hinterhaus, viele Fenster, keine Balkone, aber weiß gestrichene Wände. Dazwischen ein begrünter Hof und eine stattliche Kastanie, die längst alles überragt. Hinter dem Hinterhaus liegt sogar ein kleiner Garten, aber woanders ist es immer noch ein Hof und manchmal auch noch einer, dann muss ich an Zille denken und daran, wie es früher für alle hier wohl gewesen ist.
Als ich einzog, begann kurz darauf die Kastanie auszutreiben, es war früher Nachmittag, die Frühjahrssonne schien, und mein Nachbar aus dem Vierten gegenüber stand mit nacktem Oberkörper im offenen Küchenfenster und winkte mir zu: „Ist sie nicht herrlich, die Sonne? Es geht aufwärts.“
Ich konnte es nicht fassen, ich war auf der falschen Seite gelandet! Bis zum nächsten Morgen würde ich hier zumindest keine Sonne mehr sehen.
Kurze Zeit später kam noch der Schock mit dem Baum dazu. Zuerst freute ich mich über das frische Grün, doch dann wurden die Blätter immer größer, fast konnte ich sie mit der Hand greifen, und in meiner Küche wurde es immer dunkler. Ich sah keine Nachbarn mehr und nicht die gegenüberliegenden Fenster, sah nur noch große, grüne Blätter und musste in der Küche tagsüber das Licht anmachen. Da war es auf einmal, dieses im Dunklen gefangen und eingesperrt sein, dieses ganz schreckliche Gefühl. Nach ein paar Jahren zog ich auf die andere Seite des Hofes und muss seither keine Lampe mehr anmachen im Sommer, kann die Sonnenstrahlen genießen und habe Mitleid mit meinen Nachmietern gegenüber.
Immer ist es derselbe Ablauf. Von der Straße durch das Hoftor durch das vordere Gebäude gehen, und dann die Spannung wie bei einem Kinder-Überraschungsei. Wie sieht er aus, der Hinterhof? Mit oder ohne Baum? Sandkasten und ein paar Sitzgelegenheiten oder nur Mülltonnen und Fahrräder? Liebevoll gestaltet und benutzt oder sich selbst überlassen? Ruhig oder leise? Schöne Blumenbeete oder doch viel Schmuddelkram? Wurden Seitenflügel und Hinterhaus weggebombt? Gibt es freie Sicht bis zum nächsten Haus oder wurden sie durch Neubauten ersetzt? Machen neue Fahrstühle von außen nachträglich angebaut das Leben in den oberen Stockwerken bequem und in den unteren noch finsterer?
Vorne tobt der Lärm der Stadt, und im Hinterhof hörst du Vögel und oft die Stille. Aber auch alles, was die anderen machen, wenn sie nicht leise sind, und riechst alles, was sie kochen und essen werden. Hinterhöfe sind kleine Oasen, bitteres Eingesperrtsein oder rascher Durchgang zum nächsten Dahinter, je nachdem. Eigentlich ist es mit ihnen ein bisschen so wie beim Roulette.
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Hinterhöfe
RAU
Der Himmel nicht mehr als ein kleines Rechteck, graue Fassaden, abgeblätterter Putz, viele Fenster und keine Balkone. Auch keine Bäume, Pflanzen oder Blumen und wenig Licht. Einfache Leute, vielleicht sogar arme, die hier leben, Horden von Kindern, die hier spielen müssen, viele davon nicht gesund wegen Licht- und Vitaminmangel. Rachitis, diesen Ausdruck habe ich mir damals gemerkt, und auch die alten Fotografien dazu in Schwarzweiß. Erster Hof, zweiter, dritter, vierter und manchmal noch einer, Roter Wedding und Zilles Zeichnungen dazu. So stand es in meinem Geschichtsbuch, so habe ich es abgespeichert. Auch deshalb wollte ich nie in diese Stadt, natürlich kam auch Anderes dazu. Die Mauer, Grenzkontrollen, sich eingesperrt fühlen, schlechte Luft und kalte Winter.
Jetzt wohne ich doch hier mit Blick in einen Hinterhof. Ein Vorderhaus, zwei Seitenflügel und ein Hinterhaus, viele Fenster, keine Balkone, aber weiß gestrichene Wände. Dazwischen ein begrünter Hof und eine stattliche Kastanie, die längst alles überragt. Hinter dem Hinterhaus liegt sogar ein kleiner Garten, aber woanders ist es immer noch ein Hof und manchmal auch noch einer, dann muss ich an Zille denken und daran, wie es früher für alle hier wohl gewesen ist.
Als ich einzog, begann kurz darauf die Kastanie auszutreiben, es war früher Nachmittag, die Frühjahrssonne schien, und mein Nachbar aus dem Vierten gegenüber stand mit nacktem Oberkörper im offenen Küchenfenster und winkte mir zu: „Ist sie nicht herrlich, die Sonne? Es geht aufwärts.“
Ich konnte es nicht fassen, ich war auf der falschen Seite gelandet! Bis zum nächsten Morgen würde ich hier zumindest keine Sonne mehr sehen.
Kurze Zeit später kam noch der Schock mit dem Baum dazu. Zuerst freute ich mich über das frische Grün, doch dann wurden die Blätter immer größer, fast konnte ich sie mit der Hand greifen, und in meiner Küche wurde es immer dunkler. Ich sah keine Nachbarn mehr und nicht die gegenüberliegenden Fenster, sah nur noch große, grüne Blätter und musste in der Küche tagsüber das Licht anmachen. Da war es auf einmal, dieses im Dunklen gefangen und eingesperrt sein, dieses ganz schreckliche Gefühl. Nach ein paar Jahren zog ich auf die andere Seite des Hofes und muss seither keine Lampe mehr anmachen im Sommer, kann die Sonnenstrahlen genießen und habe Mitleid mit meinen Nachmietern gegenüber.
Immer ist es derselbe Ablauf. Von der Straße durch das Hoftor durch das vordere Gebäude gehen, und dann die Spannung wie bei einem Kinder-Überraschungsei. Wie sieht er aus, der Hinterhof? Mit oder ohne Baum? Sandkasten und ein paar Sitzgelegenheiten oder nur Mülltonnen und Fahrräder? Liebevoll gestaltet und benutzt oder sich selbst überlassen? Ruhig oder leise? Schöne Blumenbeete oder doch viel Schmuddelkram? Wurden Seitenflügel und Hinterhaus weggebombt? Gibt es freie Sicht bis zum nächsten Haus oder wurden sie durch Neubauten ersetzt? Machen neue Fahrstühle von außen nachträglich angebaut das Leben in den oberen Stockwerken bequem und in den unteren noch finsterer?
Vorne tobt der Lärm der Stadt, und im Hinterhof hörst du Vögel und oft die Stille. Aber auch alles, was die anderen machen, wenn sie nicht leise sind, und riechst alles, was sie kochen und essen werden. Hinterhöfe sind kleine Oasen, bitteres Eingesperrtsein oder rascher Durchgang zum nächsten Dahinter, je nachdem. Eigentlich ist es mit ihnen ein bisschen so wie beim Roulette.