Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
RAU
Als Junge war es die Familie. Mama, Papa und die anderen, der Garten noch und unsere Straße. Der Schulweg auch, die Freunde, der kleine Laden, in dem ich Süßigkeiten und Hefte gekauft habe. Und das Hotel, in dem Mama gearbeitet hat, und wir mittags alle zusammen gegessen haben. Heimat war einfach da und wurde jeden Tag mit neuen Erlebnissen gefüllt. Einen Tag später schon waren sie Erinnerungen und Klebstoff für so etwas wie ein Heimatgefühl, im Guten wie im Schlechten.
Auch als Jugendlicher war sie noch da, habe ich mich noch ganz selbstverständlich in ihr bewegt. Aber anderes darin wurde wichtiger: die neuen Freunde, die Frau, die mich küsste und mit der ich zum allerersten Mal schlief, der verwunschene Garten von Rüdigers Oma und auch die Drogen, die vor allem.
Dann zog ich in die große Stadt und wunderte mich von morgens bis spät: so groß und laut, so hell und freundlich, beeindruckend, fremd und angenehm, voller Menschen und so ganz anders. Schlief wenig in den ersten Jahren und staunte wie ein kleines Kind vor den Geschenken unterm Weihnachtsbau. Das alles ist jetzt für mich? Alles nur für mich? Das wird meine neue Heimat?
So zog mich das Neue ganz nah zu sich heran, und das Alte verlor. So klein das Elternhaus? So popelig die früher so wichtige Eisdiele? Die Tochter des Chefs dort war früher mal mein erster Schwarm? Kaum zu glauben, wisch und weg, jetzt gibt es Anderes. Das Leben war fortan eines auf der Überholspur und jeden Tag war ich wie ein Indianer auf Tour. Sagt man heute nicht mehr, und trotzdem war ich als Junge immer lieber Indianer als Cowboy.
Und heute? Das Haus, in dem ich wohne, hat in den vielen Jahren einen neuen Anstrich bekommen, neue Fenster und ein neues Dach. Einen Fahrstuhl auch, den ich aber nicht brauche im Erdgeschoß. Das war es auch schon. Stimmt nicht ganz, zwölf Menschen sind verstorben oder ausgezogen, sieben neue eingezogen und zwei wurden hier geboren. Der übliche Wandel in einem städtischen Haus.
Wo ich herkomme, gehöre ich nicht mehr hin. Wo ich lebe, ist rundherum fast nichts mehr wie früher. Meinen Friseur gibt es nicht mehr, Edeka an der Ecke hat einer spanischen Kita Platz gemacht, der kleine Zeitungsladen ist jetzt Büro der Linken-Abgeordneten. Im ehemaligen Konsumladen arbeitet nun eine internationale Filmagentur, wo früher die Drogerie war, schneiden jetzt Araber anderen Arabern Haare und Bärte. Zwei Shisha-Bars, vier Spätis, zwei Inder, fünf Dönerläden, drei Italiener, Japaner, Koreaner, Vietnamese, Thailänder, fünf leerstehende Geschäfte und drei schicke neue Appartementhäuser zeugen vom stetigen Wandel.
Ist das noch meine Stadt? Auf einer ehemals gefährlichen Straße fahre ich jetzt sicher auf einem breiten Pop-up Radweg, in Lokalen und Geschäften und im Amt höre ich oft stundenlang kein deutsches Wort. Ist das noch mein Land? Über dreißig Prozent wählen in meiner alten Heimat die Rechten, in meiner Stadt sind Menschen mit Migrationshintergrund Politiker, Unternehmer, Sportler, Lehrer und Krankenpfleger, bringen sich ein, übernehmen Verantwortung oder machen krumme Dinger. Machen alles wie die, die von hier sind, auch.
Meine kleine Dreieinhalb-Raumwohnung ist mein Zuhause, und manche vertraute Landschaft, einige Gerichte und viele Songs lösen so etwas wie ein Heimatgefühl bei mir aus. Doch an den Orten, die einmal Heimat waren und vielleicht noch sind, fühle ich mich immer häufiger fremd wie ein Fremder sich nur fremd fühlen kann.
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RAU
Als Junge war es die Familie. Mama, Papa und die anderen, der Garten noch und unsere Straße. Der Schulweg auch, die Freunde, der kleine Laden, in dem ich Süßigkeiten und Hefte gekauft habe. Und das Hotel, in dem Mama gearbeitet hat, und wir mittags alle zusammen gegessen haben. Heimat war einfach da und wurde jeden Tag mit neuen Erlebnissen gefüllt. Einen Tag später schon waren sie Erinnerungen und Klebstoff für so etwas wie ein Heimatgefühl, im Guten wie im Schlechten.
Auch als Jugendlicher war sie noch da, habe ich mich noch ganz selbstverständlich in ihr bewegt. Aber anderes darin wurde wichtiger: die neuen Freunde, die Frau, die mich küsste und mit der ich zum allerersten Mal schlief, der verwunschene Garten von Rüdigers Oma und auch die Drogen, die vor allem.
Dann zog ich in die große Stadt und wunderte mich von morgens bis spät: so groß und laut, so hell und freundlich, beeindruckend, fremd und angenehm, voller Menschen und so ganz anders. Schlief wenig in den ersten Jahren und staunte wie ein kleines Kind vor den Geschenken unterm Weihnachtsbau. Das alles ist jetzt für mich? Alles nur für mich? Das wird meine neue Heimat?
So zog mich das Neue ganz nah zu sich heran, und das Alte verlor. So klein das Elternhaus? So popelig die früher so wichtige Eisdiele? Die Tochter des Chefs dort war früher mal mein erster Schwarm? Kaum zu glauben, wisch und weg, jetzt gibt es Anderes. Das Leben war fortan eines auf der Überholspur und jeden Tag war ich wie ein Indianer auf Tour. Sagt man heute nicht mehr, und trotzdem war ich als Junge immer lieber Indianer als Cowboy.
Und heute? Das Haus, in dem ich wohne, hat in den vielen Jahren einen neuen Anstrich bekommen, neue Fenster und ein neues Dach. Einen Fahrstuhl auch, den ich aber nicht brauche im Erdgeschoß. Das war es auch schon. Stimmt nicht ganz, zwölf Menschen sind verstorben oder ausgezogen, sieben neue eingezogen und zwei wurden hier geboren. Der übliche Wandel in einem städtischen Haus.
Wo ich herkomme, gehöre ich nicht mehr hin. Wo ich lebe, ist rundherum fast nichts mehr wie früher. Meinen Friseur gibt es nicht mehr, Edeka an der Ecke hat einer spanischen Kita Platz gemacht, der kleine Zeitungsladen ist jetzt Büro der Linken-Abgeordneten. Im ehemaligen Konsumladen arbeitet nun eine internationale Filmagentur, wo früher die Drogerie war, schneiden jetzt Araber anderen Arabern Haare und Bärte. Zwei Shisha-Bars, vier Spätis, zwei Inder, fünf Dönerläden, drei Italiener, Japaner, Koreaner, Vietnamese, Thailänder, fünf leerstehende Geschäfte und drei schicke neue Appartementhäuser zeugen vom stetigen Wandel.
Ist das noch meine Stadt? Auf einer ehemals gefährlichen Straße fahre ich jetzt sicher auf einem breiten Pop-up Radweg, in Lokalen und Geschäften und im Amt höre ich oft stundenlang kein deutsches Wort. Ist das noch mein Land? Über dreißig Prozent wählen in meiner alten Heimat die Rechten, in meiner Stadt sind Menschen mit Migrationshintergrund Politiker, Unternehmer, Sportler, Lehrer und Krankenpfleger, bringen sich ein, übernehmen Verantwortung oder machen krumme Dinger. Machen alles wie die, die von hier sind, auch.
Meine kleine Dreieinhalb-Raumwohnung ist mein Zuhause, und manche vertraute Landschaft, einige Gerichte und viele Songs lösen so etwas wie ein Heimatgefühl bei mir aus. Doch an den Orten, die einmal Heimat waren und vielleicht noch sind, fühle ich mich immer häufiger fremd wie ein Fremder sich nur fremd fühlen kann.