Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
RAU
Wenn ich ehrlich bin, kann ich das überhaupt nicht gut. Bei Freunden, Kollegen, Onkel oder Nichte eingeladen zu sein und beim Betreten der Wohnung die für mich richtige Perspektive einzunehmen.
Sofort habe ich den Konflikt, von dem ich noch nie erzählt habe. Denn ich bin von Kindesbeinen an neugierig. Auch deshalb bin ich Journalist geworden, denn in diesem Beruf muss ich hinter Reden, Sprüchen, Ecken und Winkeln Verstecktes und Verschwiegenes finden. Was da zu Tage trifft, ist oft genug erschreckend und lasst mich gerade in letzter Zeit auch an meinem Beruf zweifeln.
Neugier ist mein Kompass durchs Leben und auch mein Kapital, und ich lebe ziemlich gut davon. Zu meiner Neugier gehört es, dass ich alles wahrnehme, alles sehe, höre, rieche, schmecke, was um mich herum ist. Es könnte wichtig sein oder einmal bedeutend werden. Wie beim Spitzensport sind all meine Sinne über die Jahre in dieser Hinsicht auf Höchstleistung getrimmt, dass ich gar nicht mehr nicht sehen, nicht hören, nicht riechen und nicht wahrnehmen kann.
Um beim Beispiel vom Anfang zu bleiben, der Einladung bei Freunden, Kollegen, Onkel oder Nichte. Schon beim Betreten des Flures erfasse ich das Ganze. Das, was zu sehen ist und was es erzählt. Hier zwanzig Jacken und Mäntel an der Garderobe für nur eine Person, dort vierzig, meist abgetragene Paar Schuhe im Regal, zehn Handtaschen am Haken und im abgewetzten Weidenkorb auf dem Boden ein Knäul aus Handschuhen, Mützen und Schals mitten im Sommer. Das ist alles zu viel, denke ich mir, aber sage natürlich nichts. Das wäre unhöflich und übergriffig, was würde ich mir da anmaßen? Und eigentlich haben Freunde, Kollegen, Onkel oder Nichte doch nur das Pech, dass ich auf einen Blick alles in ihren Wohnungen erfasse, aber im Gegenzug sie nicht in meinen Kopf sehen können. Nur ich weiß, dass es dort mindestens so voll, so dicht gestapelt oder wild durcheinandergeworfen ist wie in ihren Fluren, Küchen, Wohn- und Esszimmern, Kellern und Garagen, und eigentlich noch viel voller und unordentlicher ist.
Angesichts der Menge an Eindrücken, Erinnerungen, Bildern und Gerüchen in meinem Hirn von einer Ordnung zu sprechen, wäre verwegen. An manchen Tagen nehme ich alles nur als überbordenden und ungeordneten Brei wahr, der mich zu ersticken droht, an den meisten Tagen jedoch ist er mir der wichtigste Schatz im Leben. Aus ihm heraus fische ich, wann immer ich will und muss, dies und das, setze es neu zusammen und mache daraus meine Reportagen, Geschichten und Statements. Noch setze ich dabei auf meine Intuition oder was immer es ist, vielleicht ist es eine Ordnung, die nicht ich gemacht habe und die ich auch nicht verstehe, die aber funktioniert. Meistens zumindest.
Ich glaube jedem Freund, Kollegen, Onkel und Nichte, die mir angesichts der Massen in ihren Wohnungen und Häusern versichern, dass es für sie darin eine Ordnung gibt. Doch sobald sie mich etwas hilflos ansehen und nur die leiseste Bemerkung machen, dass es jetzt schon ein bisschen viel wird, bin ich sofort zur Stelle. Fahre mit meinem Kombi und leeren Kartons vor und helfe beim Sortieren und Wegschmeißen. Auch bei meinem Computer kann ich jederzeit meine Dateien neu sortieren und selbst die Festplatte löschen, aber mein Hirn arbeitet leider anders. Es nimmt immer weiter, immer mehr auf und legt es irgendwo ab, ob ich will oder nicht. Selbst wenn ich im Dunklen liege, nichts mehr sehe, höre und rieche, rattert es weiter, bildet seltsame Verbindungen, schafft neue Zusammenhänge und lässt mich nicht in Ruhe. Was die Ordnung in meinem Hirn betrifft, gehöre ich eindeutig nicht zu den Gewinnern.
Dabei liebe ich Ordnung über alles und auch klare Blicke, die nicht an tausend Kleinigkeiten hängenbleiben müssen. Deshalb beherbergen mein Flur, meine Küche, Wohn- und Esszimmer, Garage und mein Keller auch nur das Nötigste, und alle, die zu Besuch kommen, sagen anerkennend, wow, es ist so leer, so ordentlich, so aufgeräumt bei dir. Wenn ihr wüsstet, denke ich dann, wenn ihr in meinen Kopf sehen könntet, habe ich angesichts der Massen da drin wirklich eine Ordnung? Dass ich nicht lache, antworte ich leise und grinse in mich hinein.
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RAU
Wenn ich ehrlich bin, kann ich das überhaupt nicht gut. Bei Freunden, Kollegen, Onkel oder Nichte eingeladen zu sein und beim Betreten der Wohnung die für mich richtige Perspektive einzunehmen.
Sofort habe ich den Konflikt, von dem ich noch nie erzählt habe. Denn ich bin von Kindesbeinen an neugierig. Auch deshalb bin ich Journalist geworden, denn in diesem Beruf muss ich hinter Reden, Sprüchen, Ecken und Winkeln Verstecktes und Verschwiegenes finden. Was da zu Tage trifft, ist oft genug erschreckend und lasst mich gerade in letzter Zeit auch an meinem Beruf zweifeln.
Neugier ist mein Kompass durchs Leben und auch mein Kapital, und ich lebe ziemlich gut davon. Zu meiner Neugier gehört es, dass ich alles wahrnehme, alles sehe, höre, rieche, schmecke, was um mich herum ist. Es könnte wichtig sein oder einmal bedeutend werden. Wie beim Spitzensport sind all meine Sinne über die Jahre in dieser Hinsicht auf Höchstleistung getrimmt, dass ich gar nicht mehr nicht sehen, nicht hören, nicht riechen und nicht wahrnehmen kann.
Um beim Beispiel vom Anfang zu bleiben, der Einladung bei Freunden, Kollegen, Onkel oder Nichte. Schon beim Betreten des Flures erfasse ich das Ganze. Das, was zu sehen ist und was es erzählt. Hier zwanzig Jacken und Mäntel an der Garderobe für nur eine Person, dort vierzig, meist abgetragene Paar Schuhe im Regal, zehn Handtaschen am Haken und im abgewetzten Weidenkorb auf dem Boden ein Knäul aus Handschuhen, Mützen und Schals mitten im Sommer. Das ist alles zu viel, denke ich mir, aber sage natürlich nichts. Das wäre unhöflich und übergriffig, was würde ich mir da anmaßen? Und eigentlich haben Freunde, Kollegen, Onkel oder Nichte doch nur das Pech, dass ich auf einen Blick alles in ihren Wohnungen erfasse, aber im Gegenzug sie nicht in meinen Kopf sehen können. Nur ich weiß, dass es dort mindestens so voll, so dicht gestapelt oder wild durcheinandergeworfen ist wie in ihren Fluren, Küchen, Wohn- und Esszimmern, Kellern und Garagen, und eigentlich noch viel voller und unordentlicher ist.
Angesichts der Menge an Eindrücken, Erinnerungen, Bildern und Gerüchen in meinem Hirn von einer Ordnung zu sprechen, wäre verwegen. An manchen Tagen nehme ich alles nur als überbordenden und ungeordneten Brei wahr, der mich zu ersticken droht, an den meisten Tagen jedoch ist er mir der wichtigste Schatz im Leben. Aus ihm heraus fische ich, wann immer ich will und muss, dies und das, setze es neu zusammen und mache daraus meine Reportagen, Geschichten und Statements. Noch setze ich dabei auf meine Intuition oder was immer es ist, vielleicht ist es eine Ordnung, die nicht ich gemacht habe und die ich auch nicht verstehe, die aber funktioniert. Meistens zumindest.
Ich glaube jedem Freund, Kollegen, Onkel und Nichte, die mir angesichts der Massen in ihren Wohnungen und Häusern versichern, dass es für sie darin eine Ordnung gibt. Doch sobald sie mich etwas hilflos ansehen und nur die leiseste Bemerkung machen, dass es jetzt schon ein bisschen viel wird, bin ich sofort zur Stelle. Fahre mit meinem Kombi und leeren Kartons vor und helfe beim Sortieren und Wegschmeißen. Auch bei meinem Computer kann ich jederzeit meine Dateien neu sortieren und selbst die Festplatte löschen, aber mein Hirn arbeitet leider anders. Es nimmt immer weiter, immer mehr auf und legt es irgendwo ab, ob ich will oder nicht. Selbst wenn ich im Dunklen liege, nichts mehr sehe, höre und rieche, rattert es weiter, bildet seltsame Verbindungen, schafft neue Zusammenhänge und lässt mich nicht in Ruhe. Was die Ordnung in meinem Hirn betrifft, gehöre ich eindeutig nicht zu den Gewinnern.
Dabei liebe ich Ordnung über alles und auch klare Blicke, die nicht an tausend Kleinigkeiten hängenbleiben müssen. Deshalb beherbergen mein Flur, meine Küche, Wohn- und Esszimmer, Garage und mein Keller auch nur das Nötigste, und alle, die zu Besuch kommen, sagen anerkennend, wow, es ist so leer, so ordentlich, so aufgeräumt bei dir. Wenn ihr wüsstet, denke ich dann, wenn ihr in meinen Kopf sehen könntet, habe ich angesichts der Massen da drin wirklich eine Ordnung? Dass ich nicht lache, antworte ich leise und grinse in mich hinein.