Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Früchtchen
WIE
1
Er hält das Zettelchen mit der Zahl 128 fest zwischen seinen Fingern, auf dem Display ist jetzt die 111 zu lesen. Es wird noch einige Zeit dauern, bis er an der Reihe ist. Solange kann er noch die anderen beobachten, wie sie die Büros betreten, und die Gesichter, mit denen sie anschließend wieder herauskommen.
„Na, sie sind mir ja ein Früchtchen“, hört er noch eine piepsige Frauenstimme sagen, als sich ein weiteres Mal die Tür öffnet und ein großer schwerer Mann in orangener Arbeitskleidung fröhlich grinsend das Büro verlässt. "Eher untypisch“, denkt er.
2
„Hör mal mein Früchtchen, so haben wir nicht gewettet, das übst du alles noch mal von vorne, vorher fangen wir nichts Neues an, hast du mich verstanden?“
So viel kann er von seinem Stuhl aus hören, im Foyer der Musikschule, wo er auf seine Tochter wartet, zwischen den Klängen, die aus verschiedenen Räumen dringen: Geige, Klavier, Saxofon, Flöte und Gitarren. Alles zusammen ergibt leider nur einen wenig erfreulichen seichten Mischmasch. Schade, denkt er. Er hätte auch gerne ein Instrument richtig gelernt, brach aber den Cello-Unterricht schon nach kurzer Zeit ab, genau wegen dieses barschen Tonfalls beim Unterricht.
3
„Pass doch auf, da sind doch lauter Früchtchen dran, siehst du das denn nicht?“
Es ist wieder ein Samstag im Sommer, an dem nahezu jeder in der Straße in seinem Garten arbeitet. Aber wie es in Stadtgärten so ist, von einer hohen Backsteinmauer getrennt, kann man die Personen im Nachbargarten zwar hören, aber nicht sehen. Vor allem, wenn der Ton lauter wird, und das ist nebenan der Fall. Es ist bestimmt schon mehr als vier Jahre her, dass die Nachbarn eingezogen sind. Trotzdem hat man sich bisher nur flüchtig gesehen und nicht miteinander gesprochen. Aber diese Gespräche hinter der Mauer, die immer ähnlich verlaufen, haben sein Bild über sie bereits verfestigt.
4
„Krieg ich deine Früchtchen?“
„Ja gerne, kannst du alle haben.“
Er hört zwei Mädchen hinter sich am Tisch in der Schulkantine, während er weiterhin mit einem weniger schmackhaften Kartoffelbrei beschäftigt ist. Der Nachtisch in Form von Fruchtjoghurt steht noch verschlossen auf seinem Tablett. Als er sich dann doch kurz umdreht, um sein Handy aus der Tasche zu holen, sieht er, wie eine der Schülerinnen mit der Löffelspitze einzelne rote Fitzelchen aus ihrem Jogurt fischt und auf dem Teller der Mitschülerin ablegt, die mit ihrem Löffel jedes einzelne Stückchen genüsslich zu sich nimmt.
„Komisch, dass du das Beste vom Jogurt nicht magst, na ja, dafür mag ich es.“
5
„Hallo alle kleinen Früchtchen, mal herkommen, ich habe Obstsalat für euch gemacht.“
Genauso hört er Melanie aus der Igelgruppe in den Garten rufen und denkt, das könnte der Anfang eines erfolgreichen Werbespotts sein, bei dem eine junge Frau mit Sommersprossen voller Stolz erzählt, dass sie für ihre Kleinen nur die besten Zutaten aus besten ökologischen Anbaugebieten mit extra vielen frischen Vitaminen und Mineralstoffen verwendet, weil das gerade für unsere Kleinen so wichtig ist.
Texte zum Alltäglichen -
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Früchtchen
WIE
1
Er hält das Zettelchen mit der Zahl 128 fest zwischen seinen Fingern, auf dem Display ist jetzt die 111 zu lesen. Es wird noch einige Zeit dauern, bis er an der Reihe ist. Solange kann er noch die anderen beobachten, wie sie die Büros betreten, und die Gesichter, mit denen sie anschließend wieder herauskommen.
„Na, sie sind mir ja ein Früchtchen“, hört er noch eine piepsige Frauenstimme sagen, als sich ein weiteres Mal die Tür öffnet und ein großer schwerer Mann in orangener Arbeitskleidung fröhlich grinsend das Büro verlässt. "Eher untypisch“, denkt er.
2
„Hör mal mein Früchtchen, so haben wir nicht gewettet, das übst du alles noch mal von vorne, vorher fangen wir nichts Neues an, hast du mich verstanden?“
So viel kann er von seinem Stuhl aus hören, im Foyer der Musikschule, wo er auf seine Tochter wartet, zwischen den Klängen, die aus verschiedenen Räumen dringen: Geige, Klavier, Saxofon, Flöte und Gitarren. Alles zusammen ergibt leider nur einen wenig erfreulichen seichten Mischmasch. Schade, denkt er. Er hätte auch gerne ein Instrument richtig gelernt, brach aber den Cello-Unterricht schon nach kurzer Zeit ab, genau wegen dieses barschen Tonfalls beim Unterricht.
3
„Pass doch auf, da sind doch lauter Früchtchen dran, siehst du das denn nicht?“
Es ist wieder ein Samstag im Sommer, an dem nahezu jeder in der Straße in seinem Garten arbeitet. Aber wie es in Stadtgärten so ist, von einer hohen Backsteinmauer getrennt, kann man die Personen im Nachbargarten zwar hören, aber nicht sehen. Vor allem, wenn der Ton lauter wird, und das ist nebenan der Fall. Es ist bestimmt schon mehr als vier Jahre her, dass die Nachbarn eingezogen sind. Trotzdem hat man sich bisher nur flüchtig gesehen und nicht miteinander gesprochen. Aber diese Gespräche hinter der Mauer, die immer ähnlich verlaufen, haben sein Bild über sie bereits verfestigt.
4
„Krieg ich deine Früchtchen?“
„Ja gerne, kannst du alle haben.“
Er hört zwei Mädchen hinter sich am Tisch in der Schulkantine, während er weiterhin mit einem weniger schmackhaften Kartoffelbrei beschäftigt ist. Der Nachtisch in Form von Fruchtjoghurt steht noch verschlossen auf seinem Tablett. Als er sich dann doch kurz umdreht, um sein Handy aus der Tasche zu holen, sieht er, wie eine der Schülerinnen mit der Löffelspitze einzelne rote Fitzelchen aus ihrem Jogurt fischt und auf dem Teller der Mitschülerin ablegt, die mit ihrem Löffel jedes einzelne Stückchen genüsslich zu sich nimmt.
„Komisch, dass du das Beste vom Jogurt nicht magst, na ja, dafür mag ich es.“
5
„Hallo alle kleinen Früchtchen, mal herkommen, ich habe Obstsalat für euch gemacht.“
Genauso hört er Melanie aus der Igelgruppe in den Garten rufen und denkt, das könnte der Anfang eines erfolgreichen Werbespotts sein, bei dem eine junge Frau mit Sommersprossen voller Stolz erzählt, dass sie für ihre Kleinen nur die besten Zutaten aus besten ökologischen Anbaugebieten mit extra vielen frischen Vitaminen und Mineralstoffen verwendet, weil das gerade für unsere Kleinen so wichtig ist.