Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Entscheide du
RAU
Kurz nach meinem elften Geburtstag wurde mein Leben kompliziert, denn meine Eltern fingen immer häufiger an zu streiten. Als ich vierzehn war, wurden sie geschieden, und ich lebte bei meiner Mutter, die vor Trauer über ihre gescheiterte Liebe und an der Eifersucht auf ihre Nachfolgerin fast zerbrach. Natürlich wollte sie mir das nicht zeigen, weckte mich pünktlich in der Früh, machte mir ein leckeres Frühstück, füllte die Brotzeitdose mit feinen Sachen und fragte mich dann, was ich abends essen wolle.
„Weiß nicht“, antwortete ich meist.
„Aber Du kannst es Dir aussuchen.“
„Dann Spaghetti mit Tomatensauce.“
Heute kann ich keine Tomatensauce mehr sehen und Nudeln esse ich auch kaum noch. Meine Mutter ist bis heute nicht über die Trennung hinweggekommen, obwohl sie jetzt schon bald zwanzig Jahre her ist, und hat auch keinen neuen Partner gefunden. Ein Jammer ist das. Sie lebt alleine in unserer alten Wohnung und führt ihr Steuerberaterbüro mit eiserner Hand wie ein General.
Die Jahre mit ihr in unserer Wohnung sind in meiner Erinnerung ein einziger langer, dunkler Film. Kaum Besuch, viele Tränen, stumme gemeinsame Fernsehabende und immer ihre Fragen. Was sollen wir essen, was am Wochenende machen, wohin in die Ferien fahren? Ich könne entscheiden, hat sie jedes Mal gemeint. Sogar dem Blumenhändler auf dem Wochenmarkt hat sie entgegnet, als sie bei ihm eine Rosmarinpflanze gekauft hat, und er meinte, sie solle sich die schönste aussuchen, dass er das machen solle. Sie habe schon genug in ihrem Leben zu entscheiden. Er schaute sie zunächst etwas verwundert an und dann mich, ich zuckte nur kurz mit den Achseln und deutete dann auf die erste Pflanze links vorne.
„Wir nehmen die da.“
Ob ich nicht lieber bei meinem Vater und seiner neuen Frau leben möchte, das hat sie mich leider nie gefragt. Und als ich den Wunsch endlich einmal vorgebracht habe, einmal, nur ein einziges Mal habe ich mich das getraut, hat sie sofort zu weinen begonnen und gesagt, dass ich ihr das nicht antun könne.
Bis zu meinem Auszug einen Tag nach meinem achtzehnten Geburtstag hat mich ihre ständige Fragerei nach dem, was ich möchte, begleitet und genervt, denn schon bald habe ich kapiert, dass es nicht darum ging, mir einen Gefallen zu tun oder eine Freude zu machen. Es ging um sie. Ich sollte ihr etwas abnehmen. Immer nur ist es um sie gegangen in diesen vielen Jahren.
Deshalb zucke ich jedes Mal zusammen und werde sehr ärgerlich, wenn ich auf eine Frage oder einen Vorschlag diese Antwort bekomme: entscheide du. Was so freundlich, liberal und partnerschaftlich daherkommt, ist in meinen Ohren jedes Mal eine Klatsche. Sorry, aber in diesem Punkt bin ich ausnahmsweise sehr empfindlich.
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Kurz nach meinem elften Geburtstag wurde mein Leben kompliziert, denn meine Eltern fingen immer häufiger an zu streiten. Als ich vierzehn war, wurden sie geschieden, und ich lebte bei meiner Mutter, die vor Trauer über ihre gescheiterte Liebe und an der Eifersucht auf ihre Nachfolgerin fast zerbrach. Natürlich wollte sie mir das nicht zeigen, weckte mich pünktlich in der Früh, machte mir ein leckeres Frühstück, füllte die Brotzeitdose mit feinen Sachen und fragte mich dann, was ich abends essen wolle.
„Weiß nicht“, antwortete ich meist.
„Aber Du kannst es Dir aussuchen.“
„Dann Spaghetti mit Tomatensauce.“
Heute kann ich keine Tomatensauce mehr sehen und Nudeln esse ich auch kaum noch. Meine Mutter ist bis heute nicht über die Trennung hinweggekommen, obwohl sie jetzt schon bald zwanzig Jahre her ist, und hat auch keinen neuen Partner gefunden. Ein Jammer ist das. Sie lebt alleine in unserer alten Wohnung und führt ihr Steuerberaterbüro mit eiserner Hand wie ein General.
Die Jahre mit ihr in unserer Wohnung sind in meiner Erinnerung ein einziger langer, dunkler Film. Kaum Besuch, viele Tränen, stumme gemeinsame Fernsehabende und immer ihre Fragen. Was sollen wir essen, was am Wochenende machen, wohin in die Ferien fahren? Ich könne entscheiden, hat sie jedes Mal gemeint. Sogar dem Blumenhändler auf dem Wochenmarkt hat sie entgegnet, als sie bei ihm eine Rosmarinpflanze gekauft hat, und er meinte, sie solle sich die schönste aussuchen, dass er das machen solle. Sie habe schon genug in ihrem Leben zu entscheiden. Er schaute sie zunächst etwas verwundert an und dann mich, ich zuckte nur kurz mit den Achseln und deutete dann auf die erste Pflanze links vorne.
„Wir nehmen die da.“
Ob ich nicht lieber bei meinem Vater und seiner neuen Frau leben möchte, das hat sie mich leider nie gefragt. Und als ich den Wunsch endlich einmal vorgebracht habe, einmal, nur ein einziges Mal habe ich mich das getraut, hat sie sofort zu weinen begonnen und gesagt, dass ich ihr das nicht antun könne.
Bis zu meinem Auszug einen Tag nach meinem achtzehnten Geburtstag hat mich ihre ständige Fragerei nach dem, was ich möchte, begleitet und genervt, denn schon bald habe ich kapiert, dass es nicht darum ging, mir einen Gefallen zu tun oder eine Freude zu machen. Es ging um sie. Ich sollte ihr etwas abnehmen. Immer nur ist es um sie gegangen in diesen vielen Jahren.
Deshalb zucke ich jedes Mal zusammen und werde sehr ärgerlich, wenn ich auf eine Frage oder einen Vorschlag diese Antwort bekomme: entscheide du. Was so freundlich, liberal und partnerschaftlich daherkommt, ist in meinen Ohren jedes Mal eine Klatsche. Sorry, aber in diesem Punkt bin ich ausnahmsweise sehr empfindlich.