Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Einfamilienhaus
RAU
Mein Elternhaus liegt am Ende der ungewöhnlich langen Straße auf der linken Seite, gleich dahinter beginnt der dichte, hohe Kiefernwald. Das letzte Haus vor der Wildnis, darauf sind meine Eltern noch heute stolz. Sie haben es kurz vor meiner Geburt gebaut und über die Jahre Stück für Stück aufgehübscht, wie sie es nennen. Moderne Haustür, Verbundfenster, Dachziegel und vor ein paar Jahren kam endlich auch ein neuer Anstrich mit Wärmeputzdämmung, auf Mutter Wunsch in zartgelb.
Die Traufseite zeigt zur Straße, mittig die Eingangstür mit Glasfüllung, links und rechts zwei kleine Fenster, neben dem Haus die Garage, die nur für einen Wagen passt, deshalb steht Mutters alter, roter Golf immer auf der Auffahrt. Die soll nächstes Jahr neu verlegt werden, wenn es nach ihr geht, die alten Platten sind zerbrochen, Unkraut wächst heraus. Das Ganze sehe nicht mehr manierlich aus, sagt sie und drängt Vater, endlich in die Gänge zu kommen. Der Vordergarten mit Rasen, ein paar Büschen und einer dichten Buchenhecke, die jedes Jahr, mittlerweile vom Schwiegersohn, exakt auf zwei Meter Höhe geschnitten wird, davor der neu gestrichene, dunkelbraune Jägerzaun.
Hier wohnt das Glück,
siehst du es?
Diese Ruhe, dieser Frieden,
spürst du sie?
Ein typisches Siedlungshaus der Siebzigerjahre wie die anderen Häuser in der Straße und im Viertel auch. Im Erdgeschoß Küche, Wohn- und Esszimmer und kleines WC, im Obergeschoß drei Zimmer und ein Bad, alles eher bescheiden. Alle zweiundsiebzig Häuser der Waldstraße wurden damals gleichzeitig gebaut und doch sieht jedes heute ein wenig anders aus, hier sind Klinkersteine vorgesetzt, dort eine Holzverschalung, hier grüßt ein grauer Anstrich, dort einer in Altrosa. Beim einen stehen dichte Rhododendren im Vorgarten, beim anderen Kübelpflanzen auf den Pflastersteinen, weil die weniger Arbeit machen. Überall sind die Kiefern in die Höhe gewachsen und spenden mehr Schatten als lieb ist. Innen müsste auch mal wieder komplett durchgestrichen werden, Kinder, es macht schon Arbeit, aber sei’s drum, es ist das eigene Haus, freistehend.
Hier wohnt das Glück,
siehst du es?
Diese Ruhe, dieser Frieden,
spürst du sie?
Waldstraße 36, das letzte Haus links, der Stolz meiner Eltern. Endlich sind sie damals der feuchten, dunklen und viel zu kleinen Altbauwohnung in der Innenstadt entkommen und konnten aufatmen. Endlich im Eigenen, endlich in Sicherheit, niemand kann sie mehr vor die Tür setzen. Endlich raus aus der Stadt, aus dem Krach und der schlechten Luft. Kinder, ihr könnt euch nicht vorstellen, was das bedeutet hat. Immer noch bedeutet. Auch wenn das viele Laub im Herbst, die Obstbäume und die Beerensträucher im Sommer viel Arbeit machen. Komm doch mal wieder vorbei, du isst doch so gerne Marmelade, und die alte Sandkiste, in der ihr früher gebuddelt habt, bricht auch langsam zusammen.
Blickdichte Stores in den Fenstern, immer irgendein Dekoteil auf der Fensterbank. Abends und im Winter ab vier die Rollladen herunter, im Sommer schon ab Mittag, die Sonne bleicht ja alles aus. Fenstersicherungen. Die Angst vor fremden Blicken und vor Einbrechern, in letzter Zeit verstärkt. Keine Kinderstimmen aus den Gärten, von den Auffahrten und auf der Straße, keine Geräusche und keine Menschen, nirgends.
Hier wohnt das Glück,
siehst du es?
Hier herrscht die Stille.
Wohnt hier jemand?
Herr Schuster gegenüber bekommt jetzt Essen auf Rädern, Frau Dorn ist über Nacht Witwe geworden. Die Hypotheken sind abbezahlt und die Testamente geschrieben. Die neuen Nachbarn rechts lassen ihr Unkraut durch den Zaun rüberwachsen. Wir wissen gar nichts von denen, woher sie kommen und was sie arbeiten, die gehen fast nie raus, sind wohl auch so moderne Leute im Homeoffice.
Hier wohnt das Glück,
siehst du es?
Hier passiert uns nichts,
hallo, ist da wer?
Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Einfamilienhaus
RAU
Mein Elternhaus liegt am Ende der ungewöhnlich langen Straße auf der linken Seite, gleich dahinter beginnt der dichte, hohe Kiefernwald. Das letzte Haus vor der Wildnis, darauf sind meine Eltern noch heute stolz. Sie haben es kurz vor meiner Geburt gebaut und über die Jahre Stück für Stück aufgehübscht, wie sie es nennen. Moderne Haustür, Verbundfenster, Dachziegel und vor ein paar Jahren kam endlich auch ein neuer Anstrich mit Wärmeputzdämmung, auf Mutter Wunsch in zartgelb.
Die Traufseite zeigt zur Straße, mittig die Eingangstür mit Glasfüllung, links und rechts zwei kleine Fenster, neben dem Haus die Garage, die nur für einen Wagen passt, deshalb steht Mutters alter, roter Golf immer auf der Auffahrt. Die soll nächstes Jahr neu verlegt werden, wenn es nach ihr geht, die alten Platten sind zerbrochen, Unkraut wächst heraus. Das Ganze sehe nicht mehr manierlich aus, sagt sie und drängt Vater, endlich in die Gänge zu kommen. Der Vordergarten mit Rasen, ein paar Büschen und einer dichten Buchenhecke, die jedes Jahr, mittlerweile vom Schwiegersohn, exakt auf zwei Meter Höhe geschnitten wird, davor der neu gestrichene, dunkelbraune Jägerzaun.
Hier wohnt das Glück,
siehst du es?
Diese Ruhe, dieser Frieden,
spürst du sie?
Ein typisches Siedlungshaus der Siebzigerjahre wie die anderen Häuser in der Straße und im Viertel auch. Im Erdgeschoß Küche, Wohn- und Esszimmer und kleines WC, im Obergeschoß drei Zimmer und ein Bad, alles eher bescheiden. Alle zweiundsiebzig Häuser der Waldstraße wurden damals gleichzeitig gebaut und doch sieht jedes heute ein wenig anders aus, hier sind Klinkersteine vorgesetzt, dort eine Holzverschalung, hier grüßt ein grauer Anstrich, dort einer in Altrosa. Beim einen stehen dichte Rhododendren im Vorgarten, beim anderen Kübelpflanzen auf den Pflastersteinen, weil die weniger Arbeit machen. Überall sind die Kiefern in die Höhe gewachsen und spenden mehr Schatten als lieb ist. Innen müsste auch mal wieder komplett durchgestrichen werden, Kinder, es macht schon Arbeit, aber sei’s drum, es ist das eigene Haus, freistehend.
Hier wohnt das Glück,
siehst du es?
Diese Ruhe, dieser Frieden,
spürst du sie?
Waldstraße 36, das letzte Haus links, der Stolz meiner Eltern. Endlich sind sie damals der feuchten, dunklen und viel zu kleinen Altbauwohnung in der Innenstadt entkommen und konnten aufatmen. Endlich im Eigenen, endlich in Sicherheit, niemand kann sie mehr vor die Tür setzen. Endlich raus aus der Stadt, aus dem Krach und der schlechten Luft. Kinder, ihr könnt euch nicht vorstellen, was das bedeutet hat. Immer noch bedeutet. Auch wenn das viele Laub im Herbst, die Obstbäume und die Beerensträucher im Sommer viel Arbeit machen. Komm doch mal wieder vorbei, du isst doch so gerne Marmelade, und die alte Sandkiste, in der ihr früher gebuddelt habt, bricht auch langsam zusammen.
Blickdichte Stores in den Fenstern, immer irgendein Dekoteil auf der Fensterbank. Abends und im Winter ab vier die Rollladen herunter, im Sommer schon ab Mittag, die Sonne bleicht ja alles aus. Fenstersicherungen. Die Angst vor fremden Blicken und vor Einbrechern, in letzter Zeit verstärkt. Keine Kinderstimmen aus den Gärten, von den Auffahrten und auf der Straße, keine Geräusche und keine Menschen, nirgends.
Hier wohnt das Glück,
siehst du es?
Hier herrscht die Stille.
Wohnt hier jemand?
Herr Schuster gegenüber bekommt jetzt Essen auf Rädern, Frau Dorn ist über Nacht Witwe geworden. Die Hypotheken sind abbezahlt und die Testamente geschrieben. Die neuen Nachbarn rechts lassen ihr Unkraut durch den Zaun rüberwachsen. Wir wissen gar nichts von denen, woher sie kommen und was sie arbeiten, die gehen fast nie raus, sind wohl auch so moderne Leute im Homeoffice.
Hier wohnt das Glück,
siehst du es?
Hier passiert uns nichts,
hallo, ist da wer?