Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Dinge, die verschwinden
RAU
Da gibt es Schlüssel und Socken, Geldscheine, Handschuhe, Lippenstifte, Handys und all den anderen Kram, den man sucht und nicht findet oder dort, wo man ihn nicht vermutet hätte. Doch all dies meine ich nicht.
Es war Anfang der Nullerjahre, ich war frisch in die Stadt gezogen, kam vom Voralpenland an die Spree und hatte damit zu tun, nicht nur den Unterschied von Bergen und Flüssen zu verdauen, sondern auch das ständige Staunen über Dies und Das und so viel mehr. Hinter jeder Ecke lauerte etwas Anderes, ehemals Ost und West waren noch zu erkennen, vor riesigen Baustellen blickte man ins ausgehöhlte Erdreich mit Bauarbeitern so klein wie Playmobilfiguren. Inmitten eines großen Parks steppenartige Brachflächen, nicht renovierte Kriegs- und Nachkriegsbauten neben halb futuristischen, neuen Häusern. Einschusslöcher, Mauerreste, Graffitis, verschiedene Sprachen und viele Leute, die elektrifiziert waren von den grenzenlosen Möglichkeiten, die sich ihnen boten.
Die Strandbar entdeckte ich bei einer meinen vielen Streifzügen durch unbekanntes Terrain. Parallel zur Spree aufgeschütteter Sand, ein paar Bierbänke, Holztische, Liegestühle aus dem Baumarkt, eine behelfsmäßige Theke, dahinter gestapelte Getränkekisten und freundliche Studenten als Bedienung. Gegründet von einer ehemals arbeitslosen Frau als Ich-AG. Ich kaufte mir eine Cola Light, ergatterte einen freien Liegestuhl, zog meine Schuhe aus und vergrub meine Zehen in den mit Lastschiffen rangeschafften, märkischen Sand. Konnte mein Glück nicht fassen, blinzelte gegen die Sonne Richtung Reichstag und begann zu summen: Unter dem Pflaster, da liegt der Strand, komm reiß auch du ein paar Steine aus dem Sand.
Zwei oder drei Jahre später der Umzug ein paar hundert Meter weiter flussaufwärts. Sicher dreimal soviel Platz mit einer begnadeten Aussicht auf die Museumsinsel. Und wieder das Provisorische, Getränke holte man sich treppauf an der nun größeren Theke Marke Eigenbau. Eines Samstags sah ich dort die Ersten tanzen auf einem zusammengebauten Holzboden. Die Musik dröhnte aus mitgebrachten Boxen. Es war Tango, mein Lieblingsstück von Piazolla, Oblivion, ich weiß es noch wie heute.
Alle meine Gäste habe ich hingeführt und fortan viele lange Sommerabende dort verbracht. Ist es nicht ein Traum? Mit Blick auf Spree, Bodemuseum, Dom und Fernsehturm zu tanzen oder träume ich es nur, dachte ich oft. Die Touristen auf den Ausflugsschiffen verdrehten ihre Köpfe, Spaziergänger blieben stehen, auf ihren Gesichtern ein Leuchten. Ein Freund sah mich eines Abends dort mit einem Anderen tanzen und meinte tags darauf, er habe sich in mich verliebt. Sonnige Nachmittage und laue Sommerabende, Musik und Tanz und Sonnenuntergänge, zusehen, ausprobieren, reden, sich berühren, küssen. Es nicht fassen können, das Glück. Unter dem Pflaster liegt der Strand.
Dann wurde im Herbst alles abgebaut und nach den Ideen eines Architekturbüros oder nach wem auch immer neugestaltet. Hat sicher eine Menge Geld gekostet. Der Sand wich hellem Asphalt und frischem Rasen, nun gab es ordentliches Biergartenmobiliar, viele Sonnenschirme und an den Rändern noch ein paar Liegestühle. Neben der Theke wurde ein Pizzaofen gebaut, nun konnte man sich auch stärken. Die Tanzfläche wurde größer, es gab anständige Boxen für den Sound, die Bar erweiterte ihr Getränkeangebot. Die alten Gebäude dahinter wurden an einen Investor verkauft und saniert.
Es ist abzusehen gewesen, soll ich es trotzdem erzählen? Die Bar wurde größer, die Getränke teurer, der Pizzaofen verschwand, die Tanzfläche wurde verkleinert und die Lautstärke der Musik wird ab zweiundzwanzig Uhr noch stärker runtergedreht. Die neuen Mieter fühlen sich gestört, sie wissen schon. Die letzten Sommer bin ich nicht mehr dort gewesen.
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Dinge, die verschwinden
RAU
Da gibt es Schlüssel und Socken, Geldscheine, Handschuhe, Lippenstifte, Handys und all den anderen Kram, den man sucht und nicht findet oder dort, wo man ihn nicht vermutet hätte. Doch all dies meine ich nicht.
Es war Anfang der Nullerjahre, ich war frisch in die Stadt gezogen, kam vom Voralpenland an die Spree und hatte damit zu tun, nicht nur den Unterschied von Bergen und Flüssen zu verdauen, sondern auch das ständige Staunen über Dies und Das und so viel mehr. Hinter jeder Ecke lauerte etwas Anderes, ehemals Ost und West waren noch zu erkennen, vor riesigen Baustellen blickte man ins ausgehöhlte Erdreich mit Bauarbeitern so klein wie Playmobilfiguren. Inmitten eines großen Parks steppenartige Brachflächen, nicht renovierte Kriegs- und Nachkriegsbauten neben halb futuristischen, neuen Häusern. Einschusslöcher, Mauerreste, Graffitis, verschiedene Sprachen und viele Leute, die elektrifiziert waren von den grenzenlosen Möglichkeiten, die sich ihnen boten.
Die Strandbar entdeckte ich bei einer meinen vielen Streifzügen durch unbekanntes Terrain. Parallel zur Spree aufgeschütteter Sand, ein paar Bierbänke, Holztische, Liegestühle aus dem Baumarkt, eine behelfsmäßige Theke, dahinter gestapelte Getränkekisten und freundliche Studenten als Bedienung. Gegründet von einer ehemals arbeitslosen Frau als Ich-AG. Ich kaufte mir eine Cola Light, ergatterte einen freien Liegestuhl, zog meine Schuhe aus und vergrub meine Zehen in den mit Lastschiffen rangeschafften, märkischen Sand. Konnte mein Glück nicht fassen, blinzelte gegen die Sonne Richtung Reichstag und begann zu summen: Unter dem Pflaster, da liegt der Strand, komm reiß auch du ein paar Steine aus dem Sand.
Zwei oder drei Jahre später der Umzug ein paar hundert Meter weiter flussaufwärts. Sicher dreimal soviel Platz mit einer begnadeten Aussicht auf die Museumsinsel. Und wieder das Provisorische, Getränke holte man sich treppauf an der nun größeren Theke Marke Eigenbau. Eines Samstags sah ich dort die Ersten tanzen auf einem zusammengebauten Holzboden. Die Musik dröhnte aus mitgebrachten Boxen. Es war Tango, mein Lieblingsstück von Piazolla, Oblivion, ich weiß es noch wie heute.
Alle meine Gäste habe ich hingeführt und fortan viele lange Sommerabende dort verbracht. Ist es nicht ein Traum? Mit Blick auf Spree, Bodemuseum, Dom und Fernsehturm zu tanzen oder träume ich es nur, dachte ich oft. Die Touristen auf den Ausflugsschiffen verdrehten ihre Köpfe, Spaziergänger blieben stehen, auf ihren Gesichtern ein Leuchten. Ein Freund sah mich eines Abends dort mit einem Anderen tanzen und meinte tags darauf, er habe sich in mich verliebt. Sonnige Nachmittage und laue Sommerabende, Musik und Tanz und Sonnenuntergänge, zusehen, ausprobieren, reden, sich berühren, küssen. Es nicht fassen können, das Glück. Unter dem Pflaster liegt der Strand.
Dann wurde im Herbst alles abgebaut und nach den Ideen eines Architekturbüros oder nach wem auch immer neugestaltet. Hat sicher eine Menge Geld gekostet. Der Sand wich hellem Asphalt und frischem Rasen, nun gab es ordentliches Biergartenmobiliar, viele Sonnenschirme und an den Rändern noch ein paar Liegestühle. Neben der Theke wurde ein Pizzaofen gebaut, nun konnte man sich auch stärken. Die Tanzfläche wurde größer, es gab anständige Boxen für den Sound, die Bar erweiterte ihr Getränkeangebot. Die alten Gebäude dahinter wurden an einen Investor verkauft und saniert.
Es ist abzusehen gewesen, soll ich es trotzdem erzählen? Die Bar wurde größer, die Getränke teurer, der Pizzaofen verschwand, die Tanzfläche wurde verkleinert und die Lautstärke der Musik wird ab zweiundzwanzig Uhr noch stärker runtergedreht. Die neuen Mieter fühlen sich gestört, sie wissen schon. Die letzten Sommer bin ich nicht mehr dort gewesen.