Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Die weiteren Aussichten
RAU
Jetzt kommt nichts über das Wetter, keine Sorge. Und es kommt auch nichts zum Verlauf der anderen, ziemlich unerquicklichen Themen, die seit Monaten die Schlagzeilen beherrschen.
Ich werde von Agnes und Amir erzählen, und Sie werden staunen, da bin ich mir sicher. Vor über einem Jahr habe ich die beiden zusammengebracht, die sich sonst niemals kennengelernt hätten, da bin ich mir noch sicherer. Aber schön der Reihe nach, wir haben ja ein wenig Zeit. Und das ist in dieser Geschichte ziemlich wichtig, Zeit füreinander zu haben.
Agnes ist meine Nachbarin und hundertundeins Jahre alt. Sie war sehr viele Jahre glücklich verheiratet, leider ist ihr Mann schon über dreißig Jahre tot, und seitdem ist Agnes Witwe, eine ziemlich unglückliche, wie ich fand. Früher eine selbstbewusste und angesehene Chefsekretärin dümpelte sie in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung immer mehr vor sich hin, vergaß zu essen und hatte so gar keine Freude mehr am Leben, sie vereinsamte. Ihr gesetzlicher Betreuer wollte sie in eine Pflegeeinrichtung geben, doch da hat sie rebelliert. Und so habe ich auf einem WG-Portal eine Suchanzeige gestartet, Wohnung gegen Betreuung, dreiundzwanzig Frauen haben sich gemeldet und ein Mann.
Dieser einzige Mann war Amir. Sportstudent aus dem Iran, achtundzwanzig Jahre jung, wegen seiner Homosexualität hat sich seine Familie von ihm abgewandt, und er hat sein Land verlassen, hat hier gutes Deutsch gelernt, macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger und spielt leidenschaftlich gerne Hallenfußball im Verein.
Seit einem Jahr wohnt er nun schon bei Agnes, schläft auf dem Sofa im Wohnzimmer und hat seine Sachen in einem mobilen Plastikschrank hinter der Tür verstaut. Er arbeitet viel, macht seinen Sport und kümmert sich um Agnes, ‚seine Oma und seine Familie‘, wie er sie immer wieder liebevoll nennt. Er kauft ein, macht Frühstück, wenn er Spätdienst hat, und Abendessen, wenn er Frühdienst hat. Er putzt ihre Zahnprothese und steckt sogar glänzende Klämmerchen in ihr schneeweißes Haar. Bringt sie ins Bett oder weckt sie in der Früh und erzählt ihr von seinem Tag. Trägt sie drei Stockwerke hoch und runter, wenn der Fahrstuhl mal wieder streikt, schiebt sie im Rollstuhl durch die Straßen, geht mit ihr ins Schwimmbad und in den Zoo, nimmt sie mit zu seinen Freunden in die Schisha-Bar, singt und tanzt sogar mit ihr im Wohnzimmer. Nimmt oft ihre Hand, und sie seine, sie berühren sich viel, reiben ihre Nasen aneinander, geben sich kleine Küsse auf die Wangen und sagen voller Überzeugung und auch Dankbarkeit, was wären wir nur ohne einander. Gerade planen sie ihren einhundertzweiten Geburtstag in einem Monat, den sie mit mir und einigen seiner Freunde in einem kleinen Lokal im Kiez feiern wollen.
Wer hätte sich das alles vor einem Jahr vorstellen können? Ohne Amir würde Agnes vielleicht gar nicht mehr leben oder längst in einem Pflegeheim vor sich hindämmern, und ohne Agnes würde sich Amir in der großen Stadt im fremden Land nicht so angekommen fühlen. So geben sie sich beide das, was sie brauchen.
Die weiteren Aussichten? Wer weiß schon, was das Leben bringt, auf jeden Fall sind die beiden mittlerweile so etwas wie ziemlich beste Freunde geworden, und hoffen, dass der nächste Geburtstag hoffentlich nicht Agnes letzter sein wird.
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RAU
Jetzt kommt nichts über das Wetter, keine Sorge. Und es kommt auch nichts zum Verlauf der anderen, ziemlich unerquicklichen Themen, die seit Monaten die Schlagzeilen beherrschen.
Ich werde von Agnes und Amir erzählen, und Sie werden staunen, da bin ich mir sicher. Vor über einem Jahr habe ich die beiden zusammengebracht, die sich sonst niemals kennengelernt hätten, da bin ich mir noch sicherer. Aber schön der Reihe nach, wir haben ja ein wenig Zeit. Und das ist in dieser Geschichte ziemlich wichtig, Zeit füreinander zu haben.
Agnes ist meine Nachbarin und hundertundeins Jahre alt. Sie war sehr viele Jahre glücklich verheiratet, leider ist ihr Mann schon über dreißig Jahre tot, und seitdem ist Agnes Witwe, eine ziemlich unglückliche, wie ich fand. Früher eine selbstbewusste und angesehene Chefsekretärin dümpelte sie in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung immer mehr vor sich hin, vergaß zu essen und hatte so gar keine Freude mehr am Leben, sie vereinsamte. Ihr gesetzlicher Betreuer wollte sie in eine Pflegeeinrichtung geben, doch da hat sie rebelliert. Und so habe ich auf einem WG-Portal eine Suchanzeige gestartet, Wohnung gegen Betreuung, dreiundzwanzig Frauen haben sich gemeldet und ein Mann.
Dieser einzige Mann war Amir. Sportstudent aus dem Iran, achtundzwanzig Jahre jung, wegen seiner Homosexualität hat sich seine Familie von ihm abgewandt, und er hat sein Land verlassen, hat hier gutes Deutsch gelernt, macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger und spielt leidenschaftlich gerne Hallenfußball im Verein.
Seit einem Jahr wohnt er nun schon bei Agnes, schläft auf dem Sofa im Wohnzimmer und hat seine Sachen in einem mobilen Plastikschrank hinter der Tür verstaut. Er arbeitet viel, macht seinen Sport und kümmert sich um Agnes, ‚seine Oma und seine Familie‘, wie er sie immer wieder liebevoll nennt. Er kauft ein, macht Frühstück, wenn er Spätdienst hat, und Abendessen, wenn er Frühdienst hat. Er putzt ihre Zahnprothese und steckt sogar glänzende Klämmerchen in ihr schneeweißes Haar. Bringt sie ins Bett oder weckt sie in der Früh und erzählt ihr von seinem Tag. Trägt sie drei Stockwerke hoch und runter, wenn der Fahrstuhl mal wieder streikt, schiebt sie im Rollstuhl durch die Straßen, geht mit ihr ins Schwimmbad und in den Zoo, nimmt sie mit zu seinen Freunden in die Schisha-Bar, singt und tanzt sogar mit ihr im Wohnzimmer. Nimmt oft ihre Hand, und sie seine, sie berühren sich viel, reiben ihre Nasen aneinander, geben sich kleine Küsse auf die Wangen und sagen voller Überzeugung und auch Dankbarkeit, was wären wir nur ohne einander. Gerade planen sie ihren einhundertzweiten Geburtstag in einem Monat, den sie mit mir und einigen seiner Freunde in einem kleinen Lokal im Kiez feiern wollen.
Wer hätte sich das alles vor einem Jahr vorstellen können? Ohne Amir würde Agnes vielleicht gar nicht mehr leben oder längst in einem Pflegeheim vor sich hindämmern, und ohne Agnes würde sich Amir in der großen Stadt im fremden Land nicht so angekommen fühlen. So geben sie sich beide das, was sie brauchen.
Die weiteren Aussichten? Wer weiß schon, was das Leben bringt, auf jeden Fall sind die beiden mittlerweile so etwas wie ziemlich beste Freunde geworden, und hoffen, dass der nächste Geburtstag hoffentlich nicht Agnes letzter sein wird.