Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Beinahe
RAU
Das Wort benutzt sie nie. Kommt einfach nicht vor in ihrem Leben, das seit Jahren, ach was Jahrzehnten einigermaßen geregelt und ziemlich glatt verläuft. Job, Ehe, Familie, Freunde, Interessen. Alles zusammen ziemlich viel, dass sie gar nicht alles so schafft, wie sie möchte.
„Beinahe hätte es gekracht“, hat ihr Chef gerade gesagt, „aber so richtig. Dann wäre jetzt ‚Aus die Maus‘, alles zappenduster, aber zum Glück habe ich noch rechtzeitig das Steuerrad rumreißen können. Ich sage dir, diese Strecke durch den Wald … aber meine Frau wollte ja unbedingt wegen der Kinder rausziehen, die schöne Natur, sagt sie immer. Aber dass ich da gestern im Wald beinahe Hopps gegangen wäre, ich weiß nicht, ob ich es ihr erzählen werde. Dieses blöde Reh …. zweimal täglich durch diesen Scheißwald … wie viele Jahre noch? … nee aber auch …“
So desolat hat sie Stefan in all den Jahren noch nicht erlebt und natürlich macht sie sich Gedanken. Was gewesen wäre, wenn ... was sein wird, wenn er oder sie ... Schluss damit. Jetzt volle Konzentration aufs Projekt.
Hat sie so einen Unfall schon einmal erlebt, oder Konrad oder jemand aus der Familie oder dem Freundeskreis? Zum Glück nicht. Gab es andere Beinahe-Situationen? Natürlich, Konrad. Wie viele Zufälle spielten eine Rolle, dass sie sich damals kennenlernten? Und beinahe hätten sie doch nicht zueinander gefunden, weil sie ihm nach den ersten vier Wochen schriftlich den Laufpass geschickt hat. Weil er ihr gegenüber nicht aufmerksam genug gewesen war. Ein leichtes Schmunzeln huscht über ihre Wangen. Daran hat sich ja nicht wirklich viel geändert, denkt sie und nimmt sich fest vor, ihm am Abend davon zu erzählen. Nicht sofort, aber ein paar Tage später wird er ihr etwas Liebes sagen und was Schönes mitbringen. Man kennt sich nach all den vielen Jahren.
Beinahe hätten sie noch ein viertes Kind bekommen, aber in der sechsten Woche hat sie es verloren und ziemlich lange daran geknabbert. Beinahe wäre Anna nach ihrer Au-pair-Zeit wegen eines Mannes in Neuseeland geblieben, aber zum Glück ist sie, wenn auch mit schwerem Liebeskummer, zurückgekommen. Beinahe hätte ihre Schwester ihren unerträglichen Mann wirklich verlassen, was sie ihr ja seit vielen Jahren wünscht, doch dann hat der unmögliche Typ sie wieder rumgekriegt. Beinahe hätte die Agentur in den Zeiten der Finanzkrise nicht überlebt, aber Stefan und sie haben es geschafft. Vor ein paar Wochen wäre sie fast mit dem netten Kollegen aus Frankfurt mit ins Zimmer gegangen, wie gut, dass sie doch rechtzeitig noch umgedreht ist. In vier Wochen werden sie sich wieder über den Weg laufen, sie müsste lügen, wenn sie nicht ab und an ihn denkt und seine Fotos im Netz ansieht.
So glatt, wie sie dachte, läuft es ja doch nicht in ihrem Leben.
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Beinahe
RAU
Das Wort benutzt sie nie. Kommt einfach nicht vor in ihrem Leben, das seit Jahren, ach was Jahrzehnten einigermaßen geregelt und ziemlich glatt verläuft. Job, Ehe, Familie, Freunde, Interessen. Alles zusammen ziemlich viel, dass sie gar nicht alles so schafft, wie sie möchte.
„Beinahe hätte es gekracht“, hat ihr Chef gerade gesagt, „aber so richtig. Dann wäre jetzt ‚Aus die Maus‘, alles zappenduster, aber zum Glück habe ich noch rechtzeitig das Steuerrad rumreißen können. Ich sage dir, diese Strecke durch den Wald … aber meine Frau wollte ja unbedingt wegen der Kinder rausziehen, die schöne Natur, sagt sie immer. Aber dass ich da gestern im Wald beinahe Hopps gegangen wäre, ich weiß nicht, ob ich es ihr erzählen werde. Dieses blöde Reh …. zweimal täglich durch diesen Scheißwald … wie viele Jahre noch? … nee aber auch …“
So desolat hat sie Stefan in all den Jahren noch nicht erlebt und natürlich macht sie sich Gedanken. Was gewesen wäre, wenn ... was sein wird, wenn er oder sie ... Schluss damit. Jetzt volle Konzentration aufs Projekt.
Hat sie so einen Unfall schon einmal erlebt, oder Konrad oder jemand aus der Familie oder dem Freundeskreis? Zum Glück nicht. Gab es andere Beinahe-Situationen? Natürlich, Konrad. Wie viele Zufälle spielten eine Rolle, dass sie sich damals kennenlernten? Und beinahe hätten sie doch nicht zueinander gefunden, weil sie ihm nach den ersten vier Wochen schriftlich den Laufpass geschickt hat. Weil er ihr gegenüber nicht aufmerksam genug gewesen war. Ein leichtes Schmunzeln huscht über ihre Wangen. Daran hat sich ja nicht wirklich viel geändert, denkt sie und nimmt sich fest vor, ihm am Abend davon zu erzählen. Nicht sofort, aber ein paar Tage später wird er ihr etwas Liebes sagen und was Schönes mitbringen. Man kennt sich nach all den vielen Jahren.
Beinahe hätten sie noch ein viertes Kind bekommen, aber in der sechsten Woche hat sie es verloren und ziemlich lange daran geknabbert. Beinahe wäre Anna nach ihrer Au-pair-Zeit wegen eines Mannes in Neuseeland geblieben, aber zum Glück ist sie, wenn auch mit schwerem Liebeskummer, zurückgekommen. Beinahe hätte ihre Schwester ihren unerträglichen Mann wirklich verlassen, was sie ihr ja seit vielen Jahren wünscht, doch dann hat der unmögliche Typ sie wieder rumgekriegt. Beinahe hätte die Agentur in den Zeiten der Finanzkrise nicht überlebt, aber Stefan und sie haben es geschafft. Vor ein paar Wochen wäre sie fast mit dem netten Kollegen aus Frankfurt mit ins Zimmer gegangen, wie gut, dass sie doch rechtzeitig noch umgedreht ist. In vier Wochen werden sie sich wieder über den Weg laufen, sie müsste lügen, wenn sie nicht ab und an ihn denkt und seine Fotos im Netz ansieht.
So glatt, wie sie dachte, läuft es ja doch nicht in ihrem Leben.