Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Aufstehen
WIE
„Jetzt bleib doch mal sitzen!“ Der Ton der Kinder und Enkel klingt streng, vor allem wenn sie den 88jährigen Großvater darauf hinweisen, dass heute sein Geburtstag ist. „Es ist dein Tag heute, da brauchst du doch nichts tun und nicht ständig rummachen. Du stehst jetzt nicht auf!“
Frischer Kaffee, Papierservietten, mehrere Kuchen und Sahne, Plastikteller für den Urenkel, noch weitere Kuchengabeln, es dauert etwas, bis alles auf der großen Geburtstagstafel zusammen ist. Der Raum ist voll mit Stimmen, Rufen, Aufforderungen, es vermischen sich die unterschiedlichsten Gesprächsthemen.
„Können wir mal das Fenster öffnen.“
„Bloß nicht, mir ist jetzt schon zu kalt.“
„Gibt es nur Kaffee?“
„Ich kann auch einen Tee machen.“
„Du bleibst jetzt sitzen!“
„Wer möchte Tee?“
„Habt ihr das gelesen mit der Gaspreiserhöhung?“
„Papa, da musst du dich auch mal drum kümmern. Sonst zahlst du viel zu viel.“
„Das kannst du von der Steuer absetzen, wenn du geschickt bist. Das macht ein Kollege von mir auch.“
„Gibt es keine anderen Papierservietten. Die gefallen mir nicht.“
„Ich finde die schön.“
Da ist Großvaters Stimme zu hören: „Ich will jetzt mal aufstehen!“
Genau genommen kann das jeder der Anwesenden gut verstehen. Dennoch heißt es streng: „Du bleibst heute mal sitzen.“
Dabei täte Aufstehen einfach so gut. Beim Aufstehen kann man eine Sache verfolgen, sich auf ein Thema konzentrieren. Zum Beispiel in einem weiteren Schrank passende Kuchengabeln raussuchen, zusammen mit den kleineren Enkeln in den Keller gehen und dort nach weiteren Tortenplatten suchen und ungestört von früher erzählen. Oder in die Küche gehen, hier die älteren, bereits erwachsenen Enkel fragen, wie es mit ihrem Kinderwunsch aussieht oder wie es überhaupt um die Ehe der Eltern steht. Während man in aller Ruhe kochendes Wasser in den Filter gießt, ist so ein Gespräch unter vier Augen viel unverfänglicher.
Großvater würde gerne aufstehen, denn die Gesprächsfetzen fliegen wie Bälle beim Pingpong durch den Raum, werden geradezu über den Tisch geschmettert. Wieviel einfacher wäre es doch, für das Sahneschlagen zuständig zu sein. Am besten insgesamt drei Becher, jeder müsste einzeln geschlagen werden. Das dauerte natürlich eine Zeit. Durch die Durchreiche der Küche liesse sich dann das Geschehen im Wohnzimmer verfolgen.
Also stellt sich meistens die Frage, welche Anlässe es noch geben kann, aufstehen zu dürfen. Früher konnte man auch schon mal ein Telefonbuch holen, um die Nummer des empfehlenswerten Steuerberaters nachzuschlagen, oder ein Lexikon oder einen Atlas, um sich erklären zu lassen, wie weit die nächste Reise mit dem Wohnmobil in den Norden von Kanada führt. Doch heute grätscht sowieso schon wieder jemand dazwischen, der sein Handy schon längst bereit hält und befiehlt: „Opa, du bleibst heute mal sitzen.“
Dann hilft nur noch etwas zu suchen, was sonst kein anderer suchen kann, weil erklären zu umständlich wäre. Zum Beispiel die Zeitung von vorgestern oder den Brief, indem das mit der Erhöhung der Gaspreise drin stand. Nicht Aufstehen als ein besonderes Privileg für Jubilare zu verkaufen, ist schon gemein. Vielleicht ist es aber auch die heimliche Rache des Nachwuchses für unzählige Aufstehverbote aus eigenen Kindheitstagen.
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Aufstehen
WIE
„Jetzt bleib doch mal sitzen!“ Der Ton der Kinder und Enkel klingt streng, vor allem wenn sie den 88jährigen Großvater darauf hinweisen, dass heute sein Geburtstag ist. „Es ist dein Tag heute, da brauchst du doch nichts tun und nicht ständig rummachen. Du stehst jetzt nicht auf!“
Frischer Kaffee, Papierservietten, mehrere Kuchen und Sahne, Plastikteller für den Urenkel, noch weitere Kuchengabeln, es dauert etwas, bis alles auf der großen Geburtstagstafel zusammen ist. Der Raum ist voll mit Stimmen, Rufen, Aufforderungen, es vermischen sich die unterschiedlichsten Gesprächsthemen.
„Können wir mal das Fenster öffnen.“
„Bloß nicht, mir ist jetzt schon zu kalt.“
„Gibt es nur Kaffee?“
„Ich kann auch einen Tee machen.“
„Du bleibst jetzt sitzen!“
„Wer möchte Tee?“
„Habt ihr das gelesen mit der Gaspreiserhöhung?“
„Papa, da musst du dich auch mal drum kümmern. Sonst zahlst du viel zu viel.“
„Das kannst du von der Steuer absetzen, wenn du geschickt bist. Das macht ein Kollege von mir auch.“
„Gibt es keine anderen Papierservietten. Die gefallen mir nicht.“
„Ich finde die schön.“
Da ist Großvaters Stimme zu hören: „Ich will jetzt mal aufstehen!“
Genau genommen kann das jeder der Anwesenden gut verstehen. Dennoch heißt es streng: „Du bleibst heute mal sitzen.“
Dabei täte Aufstehen einfach so gut. Beim Aufstehen kann man eine Sache verfolgen, sich auf ein Thema konzentrieren. Zum Beispiel in einem weiteren Schrank passende Kuchengabeln raussuchen, zusammen mit den kleineren Enkeln in den Keller gehen und dort nach weiteren Tortenplatten suchen und ungestört von früher erzählen. Oder in die Küche gehen, hier die älteren, bereits erwachsenen Enkel fragen, wie es mit ihrem Kinderwunsch aussieht oder wie es überhaupt um die Ehe der Eltern steht. Während man in aller Ruhe kochendes Wasser in den Filter gießt, ist so ein Gespräch unter vier Augen viel unverfänglicher.
Großvater würde gerne aufstehen, denn die Gesprächsfetzen fliegen wie Bälle beim Pingpong durch den Raum, werden geradezu über den Tisch geschmettert. Wieviel einfacher wäre es doch, für das Sahneschlagen zuständig zu sein. Am besten insgesamt drei Becher, jeder müsste einzeln geschlagen werden. Das dauerte natürlich eine Zeit. Durch die Durchreiche der Küche liesse sich dann das Geschehen im Wohnzimmer verfolgen.
Also stellt sich meistens die Frage, welche Anlässe es noch geben kann, aufstehen zu dürfen. Früher konnte man auch schon mal ein Telefonbuch holen, um die Nummer des empfehlenswerten Steuerberaters nachzuschlagen, oder ein Lexikon oder einen Atlas, um sich erklären zu lassen, wie weit die nächste Reise mit dem Wohnmobil in den Norden von Kanada führt. Doch heute grätscht sowieso schon wieder jemand dazwischen, der sein Handy schon längst bereit hält und befiehlt: „Opa, du bleibst heute mal sitzen.“
Dann hilft nur noch etwas zu suchen, was sonst kein anderer suchen kann, weil erklären zu umständlich wäre. Zum Beispiel die Zeitung von vorgestern oder den Brief, indem das mit der Erhöhung der Gaspreise drin stand. Nicht Aufstehen als ein besonderes Privileg für Jubilare zu verkaufen, ist schon gemein. Vielleicht ist es aber auch die heimliche Rache des Nachwuchses für unzählige Aufstehverbote aus eigenen Kindheitstagen.