Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Alle außer mir
RAU
Ein silberglänzendes Jäckchen trägt sie überm schwarzen Abendkleid mit tiefem Ausschnitt und schwarzes offenes Haar, daneben ihr ziemlich aus dem Leim gegangener, deutlich älterer Mann im Smoking mit, natürlich, silberner Fliege. Selbstverliebt lächeln die beiden auf irgendeinem wichtigen Event in die Kamera.
Auf dem nächsten Bild im leuchtgelben Kleid mit noch tieferem Ausschnitt und kunstvoll hoch gestecktem Haar, auf einem anderen im schicken Landhaus-Style in einer neuen Homestory. Sicherlich zwanzig neue Fotos gibt es auf ihrem Instagram-Account, auf allen grinst sie bei einer wichtigen Veranstaltung, einer angesagten Vernissage oder coolen Abendeinladung, hat ihren Mann wie ein dressiertes Hündchen im Schlepptau. Die ganze Frau von Kopf bis Fuß mit einer einzigen Aussage: Ich bin wichtig. Ich bin schön. Ich bin nicht zu übersehen!
Ach Marie, denkt Charlotte, du wieder, kannst es immer noch nicht lassen, im Rampenlicht zu stehen. Sie scrollt sich weiter durch die Fotos. Immer mal wieder sieht sie sich ihre jüngste Schwester im Netz an, in Wirklichkeit hat sie sie seit dem Tod ihres Vaters vor drei Jahren nicht mehr gesehen und nur sehr selten mit ihr telefoniert. Sie gehen sich aus dem Weg, und das ist auch besser so. Für sie beide und für alle anderen, in der derselben Stadt bespielen sie zwei unterschiedliche Welten.
Vier Geschwister sind sie, Marie ist die Jüngste und fühlte sich schon immer nicht gesehen, an die Seite gedrückt und nicht ernst genommen. Alle außer mir war ihr Standardsatz, alle außer mir dürfen länger aufbleiben, diesen tollen Film sehen, schon Alkohol trinken oder über Nacht wegbleiben. Ihr habt mich doch gar nicht mehr gewollt, hat sie den Eltern nicht nur einmal an den Kopf geknallt, ihr seid doch mit drei Kindern schon überfordert gewesen. Und so hat Marie früh rebelliert und Ärger gemacht, hat mit dreizehn ihren ersten Freund gehabt und ist mit siebzehn das erste Mal Mutter geworden. Sex and Drugs and Rock ‘n‘ Roll war und ist die Devise ihres Lebens, auch heute noch rühmt sie sich ihrer zahlreichen Liebschaften mit mittlerweile jüngeren Männern, von denen auch ihr Mann wissen muss, zu offensichtlich brüstet sie sich damit. Immer noch erlaubt das frühere Gefühl des Nicht-Gesehen, Nicht Gehört- und Nicht-Ernstgenommen-Werdens alles Öffentliche und Schrille in ihrem Leben. Das es schon längst peinlich ist, will sie nicht wahrhaben.
Wieder schwankt Charlotte zwischen Mitleid und Ärger über die Schwester, mit der sie zeitlebens im Clinch liegt. Warum sie immer wieder im Netz nach ihr sieht? Sie weiß es nicht genau, denkt sich aber jedes Mal: Du wieder! Wie gut, dass wir uns aus dem Weg gehen, und meine drei Kinder absolut nichts von deinem ‚Alle-außer-mir-Gen‘ haben, wie gut und wie beruhigend ist das. Und schon kann sie alle kleinen und größeren Sorgen über die drei mühelos zur Seite schieben.
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Alle außer mir
RAU
Ein silberglänzendes Jäckchen trägt sie überm schwarzen Abendkleid mit tiefem Ausschnitt und schwarzes offenes Haar, daneben ihr ziemlich aus dem Leim gegangener, deutlich älterer Mann im Smoking mit, natürlich, silberner Fliege. Selbstverliebt lächeln die beiden auf irgendeinem wichtigen Event in die Kamera.
Auf dem nächsten Bild im leuchtgelben Kleid mit noch tieferem Ausschnitt und kunstvoll hoch gestecktem Haar, auf einem anderen im schicken Landhaus-Style in einer neuen Homestory. Sicherlich zwanzig neue Fotos gibt es auf ihrem Instagram-Account, auf allen grinst sie bei einer wichtigen Veranstaltung, einer angesagten Vernissage oder coolen Abendeinladung, hat ihren Mann wie ein dressiertes Hündchen im Schlepptau. Die ganze Frau von Kopf bis Fuß mit einer einzigen Aussage: Ich bin wichtig. Ich bin schön. Ich bin nicht zu übersehen!
Ach Marie, denkt Charlotte, du wieder, kannst es immer noch nicht lassen, im Rampenlicht zu stehen. Sie scrollt sich weiter durch die Fotos. Immer mal wieder sieht sie sich ihre jüngste Schwester im Netz an, in Wirklichkeit hat sie sie seit dem Tod ihres Vaters vor drei Jahren nicht mehr gesehen und nur sehr selten mit ihr telefoniert. Sie gehen sich aus dem Weg, und das ist auch besser so. Für sie beide und für alle anderen, in der derselben Stadt bespielen sie zwei unterschiedliche Welten.
Vier Geschwister sind sie, Marie ist die Jüngste und fühlte sich schon immer nicht gesehen, an die Seite gedrückt und nicht ernst genommen. Alle außer mir war ihr Standardsatz, alle außer mir dürfen länger aufbleiben, diesen tollen Film sehen, schon Alkohol trinken oder über Nacht wegbleiben. Ihr habt mich doch gar nicht mehr gewollt, hat sie den Eltern nicht nur einmal an den Kopf geknallt, ihr seid doch mit drei Kindern schon überfordert gewesen. Und so hat Marie früh rebelliert und Ärger gemacht, hat mit dreizehn ihren ersten Freund gehabt und ist mit siebzehn das erste Mal Mutter geworden. Sex and Drugs and Rock ‘n‘ Roll war und ist die Devise ihres Lebens, auch heute noch rühmt sie sich ihrer zahlreichen Liebschaften mit mittlerweile jüngeren Männern, von denen auch ihr Mann wissen muss, zu offensichtlich brüstet sie sich damit. Immer noch erlaubt das frühere Gefühl des Nicht-Gesehen, Nicht Gehört- und Nicht-Ernstgenommen-Werdens alles Öffentliche und Schrille in ihrem Leben. Das es schon längst peinlich ist, will sie nicht wahrhaben.
Wieder schwankt Charlotte zwischen Mitleid und Ärger über die Schwester, mit der sie zeitlebens im Clinch liegt. Warum sie immer wieder im Netz nach ihr sieht? Sie weiß es nicht genau, denkt sich aber jedes Mal: Du wieder! Wie gut, dass wir uns aus dem Weg gehen, und meine drei Kinder absolut nichts von deinem ‚Alle-außer-mir-Gen‘ haben, wie gut und wie beruhigend ist das. Und schon kann sie alle kleinen und größeren Sorgen über die drei mühelos zur Seite schieben.