Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Aber nicht gleich übertreiben
WIE
Immer öfters höre ich von Kollegen diesen Satz. Er scheint nahezu immer zu passen, lässt sich auf fast alles in der Organisation des Jobs anwenden. Allein die neuen Bestimmungen, die Dokumentation der täglichen Routinen, die Kontrolle und Aufforderung zur mehr Transparenz, die vielen Besprechungen. Genug Stoff, um sich einig zu sein, man kann es auch übertreiben. Das, was Jahrelang irgendwie funktionierte, muss nicht immer das Beste sein, dann aber gleich so viele Neuerungen einführen?
Wo das Übertreiben am häufigsten beklagt wird, sind die neuen Vorschriften zum Gendern. Auch hier stemmt sich keiner dagegen, dass Nachholbedarf besteht, aber warum gleich so übertreiben? Natürlich wird auch betont, dass man für Toleranz gegenüber allen Arten von Lebensformen ist, in allen Farben und persönlichen Vorlieben, aber muss man dafür gleich ein eigene Abteilung und Schutzgremien einrichten?
Egal, wo, ob in der Kantine bei der Wahl des Essens, beim Erzählen der Unternehmungen am Wochenende, dem Besprechen medizinischen Problemchen samt notwenigen Vorbeugemaßnahmen. Immer häufiger ist das 'Aber nicht gleich übertreiben' zu hören. Zumindest in der Kollegenrunde, in der das Thema Älterwerden nicht mehr zu übersehen ist.
Denn nur zwei Tische weiter sitzt die junge Fraktion der Kollegenschaft. Ein kurzer Blick dort hin bestätigt den Eindruck, dass es hier um etwas anderes geht. Übertreiben scheint viel mehr zum Lebensstil zu gehören. Sei es beim Feiern, beim Sport, bei der Anschaffung bestimmter Kultmarken zu horrenden Preisen, bei Kurzreisen über mehrere Tausend Kilometer, bei der gesunden Ernährung, vegan xxxl, und alle vier Minuten Wasser trinken.
Die Erinnerungen an die eigenen jungen Jahre bestätigen es ja auch. Was war damals los auf den Musik-Festivals, im Urlaub am Strand, bei den Diskussionen am Küchentisch in den WGs. Radikale Ansichten, wie die Welt verbessert werden muss, will man allen Menschen zu einem lebenswerten Leben verhelfen. Das Gefühl eines riesigen Vorrats an Kraft, Überzeugung, Wahrheit, Präferenz. Übertreiben war damals einfach ein Lebensgefühl samt allem, was dazu gehörte. An körperlich Gewalt grenzende Wortgefechte, radikale Proklamationen, deren Umsetzung nach mehreren Flaschen Rotweins ganz einfach schien, trotz Katers und Muskelkaters am nächsten Morgen, nach durchzechten und durchtanzten Nächten.
Ich wende mich wieder den Kollegen am Tisch zu. Eine Zeit lang war ich mit meinen Gedanken woanders, doch mittlerweile ist es dort lauter geworden. Man regt sich auf, regt sich ganz kolossal auf, denn es geht um Politik, die in der eigenen Stadt und die in Berlin. Es geht um neue Entscheidungen, die von Idioten, von Egoisten, von machthungrigen Sesselfurzern getroffen werden, allesamt unfähig und völlig überbezahlt. Von Lobbyisten erpresst, die vom Profitstreben getrieben überall ihre Finger im Spiel haben und letztlich alles verhindern, was dieser Welt jetzt gut täte.
Da ist es ja noch, dieses Lebensgefühl, wir können es doch noch: Übertreiben.
Texte zum Alltäglichen -
der wöchentliche Schreibblog
Aber nicht gleich übertreiben
WIE
Immer öfters höre ich von Kollegen diesen Satz. Er scheint nahezu immer zu passen, lässt sich auf fast alles in der Organisation des Jobs anwenden. Allein die neuen Bestimmungen, die Dokumentation der täglichen Routinen, die Kontrolle und Aufforderung zur mehr Transparenz, die vielen Besprechungen. Genug Stoff, um sich einig zu sein, man kann es auch übertreiben. Das, was Jahrelang irgendwie funktionierte, muss nicht immer das Beste sein, dann aber gleich so viele Neuerungen einführen?
Wo das Übertreiben am häufigsten beklagt wird, sind die neuen Vorschriften zum Gendern. Auch hier stemmt sich keiner dagegen, dass Nachholbedarf besteht, aber warum gleich so übertreiben? Natürlich wird auch betont, dass man für Toleranz gegenüber allen Arten von Lebensformen ist, in allen Farben und persönlichen Vorlieben, aber muss man dafür gleich ein eigene Abteilung und Schutzgremien einrichten?
Egal, wo, ob in der Kantine bei der Wahl des Essens, beim Erzählen der Unternehmungen am Wochenende, dem Besprechen medizinischen Problemchen samt notwenigen Vorbeugemaßnahmen. Immer häufiger ist das 'Aber nicht gleich übertreiben' zu hören. Zumindest in der Kollegenrunde, in der das Thema Älterwerden nicht mehr zu übersehen ist.
Denn nur zwei Tische weiter sitzt die junge Fraktion der Kollegenschaft. Ein kurzer Blick dort hin bestätigt den Eindruck, dass es hier um etwas anderes geht. Übertreiben scheint viel mehr zum Lebensstil zu gehören. Sei es beim Feiern, beim Sport, bei der Anschaffung bestimmter Kultmarken zu horrenden Preisen, bei Kurzreisen über mehrere Tausend Kilometer, bei der gesunden Ernährung, vegan xxxl, und alle vier Minuten Wasser trinken.
Die Erinnerungen an die eigenen jungen Jahre bestätigen es ja auch. Was war damals los auf den Musik-Festivals, im Urlaub am Strand, bei den Diskussionen am Küchentisch in den WGs. Radikale Ansichten, wie die Welt verbessert werden muss, will man allen Menschen zu einem lebenswerten Leben verhelfen. Das Gefühl eines riesigen Vorrats an Kraft, Überzeugung, Wahrheit, Präferenz. Übertreiben war damals einfach ein Lebensgefühl samt allem, was dazu gehörte. An körperlich Gewalt grenzende Wortgefechte, radikale Proklamationen, deren Umsetzung nach mehreren Flaschen Rotweins ganz einfach schien, trotz Katers und Muskelkaters am nächsten Morgen, nach durchzechten und durchtanzten Nächten.
Ich wende mich wieder den Kollegen am Tisch zu. Eine Zeit lang war ich mit meinen Gedanken woanders, doch mittlerweile ist es dort lauter geworden. Man regt sich auf, regt sich ganz kolossal auf, denn es geht um Politik, die in der eigenen Stadt und die in Berlin. Es geht um neue Entscheidungen, die von Idioten, von Egoisten, von machthungrigen Sesselfurzern getroffen werden, allesamt unfähig und völlig überbezahlt. Von Lobbyisten erpresst, die vom Profitstreben getrieben überall ihre Finger im Spiel haben und letztlich alles verhindern, was dieser Welt jetzt gut täte.
Da ist es ja noch, dieses Lebensgefühl, wir können es doch noch: Übertreiben.